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Aus einem unerfindlichen Grund war Finch zu neuem Leben erwacht. Er starrte durch die Lücken zwischen den Fellen in die unmenschliche Nacht hinaus. »Das ist nicht das Wunder, das ich mir gewünscht habe«, sagte er leise. »Verstehen Sie, Mr. Law?«

Guilford war steif vor Kälte. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Davon verstehe ich sehr wenig, Dr. Finch.«

 »Ich weiß, was Sie und Sullivan von mir gedacht haben. Preston Finch, der Fanatiker, sucht nach Beweisen für göttliches Eingreifen, wie diese Leute, die behaupten, sie hätten ein Stück von der Arche Noah oder vom Kreuz Christi gefunden.«

Finch klang so alt wie der Nachtwind. »Tut mir Leid, wenn Sie diesen Eindruck hatten«, sagte Guilford.

 »Ich bin Ihnen nicht böse. Vielleicht stimmt es ja. Nennen Sie es Hybris. Die Sünde der Eitelkeit. Ich habe nicht zu Ende gedacht. Wenn die Natur und das Göttliche nicht mehr voneinander getrennt sind, dann kann es auch zu dunklen Wundern kommen. Diese schreckliche Stadt. Der Mann, dessen Beine im Handumdrehen geheilt sind.«

Und der tiefe Schacht und mein Doppelgänger in seiner abgerissenen Uniform und die nach Fleischwerdung gierenden Dämonen. Nein: das nicht. Das konnte ebensogut Einbildung sein, dachte Guilford. Das Ergebnis von Übermüdung und Unterernährung und Kälte und Angst.

Finch hustete in die vorgehaltene Hand, ein schmerzhaftes Geräusch. »Es ist eine neue Welt«, sagte er.

Dagegen war nichts einzuwenden. »Wir brauchen ein bisschen Schlaf, Dr. Finch.«

 »Dunkle Kräfte und helle. Sie suchen uns heim.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das hab ich nicht gewollt.«

 »Ich weiß.«

Nach ein paar Atemzügen: »Schade um Ihre Photographien, Mr. Law.«

 »Nett, dass Sie das sagen.«

Guilford schloss die Augen.

* * *

Sie ließen keinen Tag aus, sie kamen nicht weit voran, aber wenigstens ein bisschen.

Sie folgten Tierfährten, felsigen Flussbetten, schneefreien Flecken unter Moscheebäumen und Salbeikiefern, immer bedacht, keine auffälligen Spuren zu hinterlassen. In regelmäßigen Abständen musste Guilford auf Finch aufpassen, während der Grenzer mit seinem Bowiemesser auf Jagd ging. Wenn es kein Wollschlangenfleisch gab, dann blieben immer noch die Schlafplätze der Nachtfalken. Aber seit etlichen Monaten hatten sie nichts Pflanzliches mehr gegessen, abgesehen von ein paar schwer zu findenden Wurzeln oder zähen, in Wasser gekochten Moscheebaumstacheln. Guilfords Zähne hatten sich gelockert, und sein Sehvermögen hatte deutlich an Schärfe verloren. Finch, der seine Brille schon beim ersten Überfall verloren hatte, war nahezu blind.

Die Tage vergingen. Nach dem Kalender war der Frühling nicht mehr fern, doch der Himmel blieb dunkel, der Wind stechend kalt. Guilford gewöhnte sich an die Schmerzen, jedes Gelenk tat ihm weh, immer.

Er fragte sich, ob der Bodensee wohl zugefroren war. Ob er ihn je wieder zu Gesicht bekam.

Das ramponierte Tagebuch trug er unter der Fellkleidung; er hatte es nie irgendwo liegen lassen. Auf den wenigen freien Seiten schrieb er gelegentlich kurze Mitteilungen an Caroline.

Er war sich darüber im Klaren, dass seine Kräfte nachließen. Das Bein peinigte ihn jetzt täglich und was Finch betraf — er sah aus wie ausgebuddelt aus einer Insektenkippe.

Die Temperaturen kletterten, aber nach drei Tagen setzte ein kalter Frühlingsregen ein. Die Jahreszeit war willkommen, Schlamm und Wind waren es nicht. Selbst die Wollschlangen waren abgemagert und stöberten trübsinnig im Morast nach den Gräsern vom vergangenen Jahr. Eines der Tiere war auf einem Auge erblindet, ein Star, der die Pupille mit einem hellen Schleier überzog.

Im Westen ballten sich neue Unwetter zusammen. Tom Compton erkundete einen Steinschlag, der natürlichen Schutz bot. Der Hohlraum unter den Granitblöcken war niedrig und auf zwei Seiten offen. Der Sandboden war übersät mit Tierkot. Guilford versperrte beide Zugänge mit Ästen und Fellen und band die Wollschlangen draußen an, sodass man hören konnte, wenn sie anschlugen. Doch der ehemalige Bewohner dieser kleinen Höhle, wenn es ihn denn gegeben hatte, blieb aus.

Ein sintflutartiger, kalter Regen sperrte sie in den Unterschlupf. Tom scharrte eine Feuermulde unter dem natürlichen Abzug des Steinschlags. Er war dazu übergegangen, alberne, sentimentale Lieder aus den Neunzigern, der so genannten ›Mauve Decade‹, zu summen Golden Slippers, Marbl’d Halls und dergleichen.[36] Keine Texte, nur die Bassmelodien. Es klang weniger nach Liedern als nach dem Singsang der Aborigines, düster und fremd.

Der Regen prasselte weiter, ließ ab und zu nach, hörte aber nicht auf.

Rinnsale schossen aus dem Gestein. Guilford scharrte eine Rinne, um das Wasser zu der tiefer gelegenen Öffnung zu leiten. Sie rationierten den Proviant. Mit jedem Tag, den wir hier verbringen, dachte Guilford, werden wir ein bisschen schwächer; mit jedem Tag rückt der Rhein ein bisschen weiter von uns ab. Vermutlich gab es eine einfache Gleichung, irgendeine Relation zwischen Schmerz und Zeit, die nicht zu ihren Gunsten arbeitete.

Er träumte seltener von dem Wachsoldaten, gleichwohl war der Soldat ein fester Bestandteil seiner Nächte, engagiert, beschwörend und unwillkommen. Guilford träumte von seinem Vater, dessen Verbissenheit und Ordnungssinn ihn früh ins Grab gebracht hatten.

Nur keine Schuldzuweisung, dachte Guilford. Was treibt einen Mann in dieses gottverlassene Niemandsland, wenn nicht seine verbissene Zielstrebigkeit?

Vielleicht brachte ihn dieselbe Zielstrebigkeit zurück zu Caroline und Lily.

Sie werden nicht sterben, hatte Sullivan ihm zu verstehen gegeben. Wer weiß? Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Eins stand jedenfalls fest: Er ertrug mehr, als er sich je hätte träumen lassen.

Er drehte sich nach Tom um, der mit angezogenen Knien dasaß, den kalten Fels im Kreuz. Toms Hand tastete immer mal wieder nach der Pfeife, die er vor Monaten verloren hatte. »In der Stadt«, sagte Guilford, »haben Sie da geträumt?«

Der Grenzer reagierte abweisend. »Das geht Sie nichts an.«

 »Vielleicht doch.«

 »Träume sind nichts wert. Ein Dreck sind sie.«

 »Trotzdem.«

 »Da war ein Traum«, sagte Tom. »Ich bin auf einem Schlachtfeld gestorben, ein einziger Morast. Ich war Soldat.« Er zögerte. »Ich wär mein eigener Geist, hab ich geträumt. So ein Quatsch!«

Überhaupt nicht, dachte Guilford.

Im Gegenteil, das hieß doch… ja, was nur, um Himmels willen?

Ein Schauder überlief ihn. Er wandte sich ab.

 »Wir brauchen Fleisch«, sagte Tom. »Wenn das Wetter mitspielt, geh ich morgen auf die Jagd.« Er starrte zu Preston Finch hinüber, der Geologe schlief, sein Gesicht ähnelte einer Totenmaske. »Wenn nicht, müssen wir eins der Tiere schlachten.«

 »Dann können wir gleich aufgeben.«

 »Den Rhein erreichen wir auch mit zwei Tieren.«

Diesmal klang er nicht so überzeugt.

* * *

Der Morgen war klar, aber sehr kalt. »Legen Sie Holz nach«, sagte der Grenzer zu Guilford. »Lassen Sie das Feuer nicht ausgehen. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, ziehen Sie ohne mich los. Nach Norden. Und tun Sie, was Sie können, für ihn.«

Guilford sah Tom in das frische Blau des Tages hinausgehen, die Flinte auf dem Rücken, mit rhythmischen, sparsamen Bewegungen. Die Wollschlangen blickten ihm mit weit aufgerissenen, schwarzen Augen nach und miauten wie Katzen.

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36

Mauve Decade: die durch Wohlstand und Selbstzufriedenheit charakterisierten Neunziger des 19. Jahrhunderts (Nordamerika).