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Die Anwohner wollten eine Eimerkette bilden, um die Brände zu löschen, wurden aber durch die Explosion einer frisch gelegten Gasleitung vertrieben. Zwei städtische Arbeiter und eine schwangere Frau starben in der Detonation.

Der Ostwind wurde trocken und böig. Er hüllte die Stadt in Rauch.

* * *

Caroline und Colin blieben mit Lily in dem Hotelzimmer, wohlwissend dass ihre Stunden hier gezählt waren. In der Frühe verließ Colin das Hotel, um etwas Essbares aufzutreiben. Die meisten Geschäfte und die Verkaufsstände in der Market Street waren geschlossen, ein paar Stände waren bereits geplündert. Er kam mit einem Laib Brot und einem Glas Melasse zurück. Die Küche des Empire war ein Opfer der Umstände geworden, doch im Speisesaal gab es kostenlos Flaschenwasser.

Den Morgen über beobachtete Caroline die brennende Stadt.

Die Brände an den Docks waren unter Kontrolle, aber das Ostviertel brannte lichterloh; nichts und niemand konnte das Feuer hindern, die ganze Stadt zu verschlingen. Das Feuer war jetzt gewaltig, unberechenbar, preschte plötzlich voran oder zauderte, je nachdem wie der Wind blies. Die Luft stank nach Asche und Schlimmerem.

Colin breitete ein sauberes Taschentuch über den Beistelltisch und setzte ihr ein mit Melasse getränktes Stück Brot vor die Nase. Caroline nahm einen Bissen, dann schob sie das Tischchen beiseite. »Wo sollen wir hin?« Irgendwohin mussten sie ja gehen. Und zwar bald.

 »Nach Westen«, sagte Colin gefasst. »Viele schlafen schon in der Hochheide. Es gibt Zelte. Wir nehmen Decken mit.«

 »Und danach?«

 »Schwer zu sagen. Hängt vom Krieg ab und von uns.

Ich muss der Militärpolizei aus dem Weg gehen, fürs Erste wenigstens. Und dann buchen wir eine Überfahrt.«

 »Wohin?«

 »Egal eigentlich.«

 »Nicht zum Kontinent!«

 »Natürlich nicht…«

 »Und nicht nach Amerika.«

 »Nicht? Ich dachte, du wolltest wieder nach Boston.«

Sie spielte mit dem Gedanken, Colin ihrem Onkel vorzustellen. Liam hatte Guilford nie besonders gemocht, und trotzdem, es würde Fragen geben und Einwände. Bestenfalls würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen mit all seinen Vor- und Nachteilen, besonders aber mit den Nachteilen. Nein, nicht nach Boston.

 »Wenn das so ist«, sagte Colin, »was hältst du dann von Australien?« Wie er das sagte, klang es vollkommen beiläufig. Caroline vermutete, dass er schon oft an Australien gedacht hatte. »Ich habe einen Vetter in Perth. Er würde uns aufnehmen, bis wir Fuß gefasst haben.«

 »In Australien gibt es Känguruhs«, sagte Lily.

Der Lieutenant blinzelte ihr zu. »Jede Menge Känguruhs, mein Mädchen. Wimmlig viele.«

Caroline war berückt, verhielt aber den Atem. Australien? »Und was machen wir da?«

 »Leben«, sagte Colin einfach.

* * *

Am nächsten Morgen klopfte ein Portier an die Tür und teilte ihnen mit, sie müssten sofort das Hotel verlassen oder man könne nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren.

 »Doch nicht sofort«, meinte Caroline. Colin und der Portier überhörten ihren Einwand. Vielleicht war es doch an der Zeit. Über Nacht war die Luft unerträglich geworden. Caroline spürte Stiche in der Lunge und Lily musste immerzu husten.

 »Alles östlich der Thames Street muss geräumt werden«, beharrte der Portier. »Anordnung des Bürgermeisteramtes.«

Schon merkwürdig, wie lange eine Stadt brannte, selbst eine so kleine und primitive Stadt wie London.

Sie raffte ihre Taschen zusammen und half Lily packen. Colin hatte kein Gepäck — jedenfalls nichts, woran ihm gelegen war —, aber er faltete die hoteleigenen Bettlaken und Decken zu einem Bündel zusammen. »Das Hotel wird nicht meckern«, sagte Colin. »Nicht unter diesen Umständen.«

Er weiß genauso gut wie ich, dachte Caroline, dass das Hotel morgen früh in Schutt und Asche liegt.

Sie trat vor die Spiegelkommode und ordnete ihr Haar. Sie konnte kaum etwas sehen. Draußen herrschte Zwielicht und das Gas war seit dem Angriff abgesperrt. Sie sah zu, wie sich die Geistererscheinung im Spiegel kämmte, dann nahm sie Lilys Hand. »Fertig«, sagte sie. »Wir können gehen.«

* * *

Colin verkleidete sich auf dem Treck in die ausgedehnte Zeltstadt, die westlich von London entstanden war. Er trug einen viel zu großen Regenmantel und einen Schlapphut, beides zu einem horrenden Preis von einem Altwarenhändler erstanden, der den Flüchtlingsstrom abgraste. Army und Navy waren zur Unterstützung abkommandiert. Sie zirkulierten zwischen den improvisierten Unterkünften und verteilten Lebensmittel und Arznei. Colin wollte unerkannt bleiben.

Natürlich wollte er nicht als Deserteur festgenommen werden. Genau genommen, dachte Caroline, war er ja desertiert. Sie wusste, dass ihm das zu schaffen machte, aber er wollte nicht darüber sprechen. »Ich war nicht viel mehr als eine Art Lagerverwalter«, sagte er. »Ich bin ersetzbar.«

* * *

Nachdem sie drei Tage in der Zeltstadt verbracht hatten, wurden die Lebensmittel knapp, allerdings wurden allerortens optimistische Gerüchte laut: Ein Dampfer vom Roten Kreuz komme die Themse herauf; die Amerikaner seien auf offener See geschlagen worden. Das Gerede ließ Caroline kalt. Sie wusste aus eigener Erfahrung, was davon zu halten war. Es reichte voll und ganz, dass dem Feuer offenbar die Nahrung ausging und ein kalter Frühlingsregen einsetzte. Die Leute redeten von Wiederaufbau, wenngleich Caroline das Wort für absurd hielt: die Rekonstruktion einer Rekonstruktion einer verschwundenen Welt, was für ein Unsinn!

Einen ganzen Nachmittag lang wanderte sie zwischen den schwelenden Lagerfeuern und stinkenden Latrinengräben umher und hielt nach Alice und Jered Ausschau. Sie bedauerte, in London keinen Bekanntenkreis zu haben, sie hatte sich zu sehr abgesondert. Wie schön wäre es gewesen, jetzt einem vertrauten Gesicht zu begegnen, doch es gab keine vertrauten Gesichter, bis auf das von Mrs. de Koenig, der Frau, die so oft auf Lily aufgepasst hatte. Mrs. de Koenig sah verdrossen drein, sie war allein, in eine triefende Persenning gehüllt, ihr Haar war wirr und nass; zuerst erkannte sie Caroline gar nicht.

Doch als Caroline sich nach Alice und Jered erkundigte, schüttelte die ältere Frau traurig den Kopf. »Sie haben zu lange gewartet. Das Feuer stürmte durch die Market Street, als ob es lebendig wär.«

Caroline stockte der Atem. »Sie sind tot?«

 »Tut mir Leid.«

 »Sind sie sicher?«

 »So sicher wie es regnet.« Ihre rotgeränderten Augen waren voller Trauer. »Tut mir Leid, Miss.«

Etwas wird einem immer gestohlen, dachte Caroline, als sie durch den Morast und die faulenden Pflanzen zurückstapfte. Etwas wird einem immer genommen. Im Regen fiel es nicht auf, wenn man weinte, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie wollte mit dem Weinen fertig sein, bevor sie Lily unter die Augen trat.

Kapitel Dreiundzwanzig

Blüte um Blüte explodierte das Feuerwerk über dem Washington Monument, man feierte den Sieg im Atlantik. Die jähen Lichter färbten den Reflecting Pool.[37] Die Nacht roch nach Schießpulver; die Menschenmenge war ausgelassen und wild.

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37

Großes Zierbecken, das die darunterliegende Architektur bzw. den Himmel spiegelt.