»Du musst die Stadt verlassen«, sagte Crane, er hatte die Hände in den Taschen und lächelte vielsagend. Er latschte wie ein Brahmane, mit einer Selbstgefälligkeit, die sich nicht allzu ernst nahm. »Ich nehme an, du weißt das.«
Wann hatte Vale zuletzt eine öffentliche Feier erlebt? Ein paar halbherzige Feten am Independence Day seit dem denkwürdigen Sommer 1912. Doch der Sieg im Atlantik hatte wie Glockengeläut über das Land gehallt. In diesem nächtlichen Gedränge würden sie nicht auffallen. Sie konnten laut reden.
Vale sagte: »Erst hätte ich noch gerne gepackt.«
Crane würde, anders als die Götter, einen Einwand hinnehmen.
»Keine Zeit, Elias. Wie dem auch sei, Leute wie wir brauchen keine irdischen Güter. Wir halten es eher — ähm — wie die Affen.«
Das Fest würde bis in den Morgen dauern. Ein glorreicher, kleiner Krieg: ganz im Sinne von Teddy Roosevelt. Die Briten hatten nach verheerenden Verlusten, die man ihrer Atlantikflotte und ihren Darwinischen Kolonien beigebracht hatte, kapituliert und fürchteten nun einen Angriff auf Kitcheners Exilregierung in Kanada. Das Diktat hielt sich in Grenzen: ein Waffenembargo, so die offizielle Fußnote der Wilson-Doktrin. Der Konflikt hatte eine ganze Woche gedauert. Weniger ein Krieg, dachte Vale, als die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln — und eine Warnung an die Japaner, sollten sie auf die Idee kommen, ihre imperialen Gelüste gen Westen zu richten.
Natürlich hatte der Krieg einem anderen Zweck gedient, einem Zweck, den nur die Götter kannten. Und dabei würde es vermutlich auch bleiben, dachte Vale. Vielleicht ging es nur darum, das Potential an Hass, Gewalt und Verwirrung zu steigern. Aber die Götter machten für gewöhnlich Nägel mit Köpfen.
In der Post hatte ein gerahmter Zusatz gestanden: Im Zusammenhang mit dem Mord an Smithsonian-Direktor Eugene Randall wurden britische Staatsangehörige und Sympathisanten vernommen. Vales Name wurde nicht erwähnt, der hatte das Zeug für eine Morgenausgabe. »Du solltest mir dankbar sein, dass ich den Kopf hinhalte«, erklärte er Crane.
»Nett ausgedrückt. Aber er bleibt obendrauf, glaub mir. Du wirst noch gebraucht. Sieh es einmal so: Du legst eine Rolle ab. Die Polizei findet dich tot in der Asche deines Reihenhauses, zumindest ein paar verräterische Knochen und Zähne. Fall erledigt.«
»Wessen Knochen?«
»Spielt das eine Rolle?«
Vermutlich nicht. Irgendein anderes Opfer. Irgendein Hindernis auf dem Weg zu einer angemessenen und zweckmäßigen Evolution des Kosmos.
Crane sagte: »Hier, nimm das.« Es war ein Umschlag mit einem Eisenbahnticket und einem Bündel Hundert-Dollar-Noten. Als Bestimmungsort stand New Orleans auf dem Ticket. Vale war noch nie in New Orleans gewesen. Seinetwegen hätte da statt New Orleans auch Mars-Ost stehen können.
»Dein Zug geht um Mitternacht«, sagte Crane.
»Und was ist mit dir?«
»Ich habe einen Schutzengel, Elias.« Er lächelte. »Um mich mach dir keine Sorge. Vielleicht sehen wir uns ja wieder, in zehn Jahren oder zwanzig oder dreißig.«
Gott steh uns bei. »Fragst du dich nie — ob das jemals aufhört?«
»Oh doch«, sagte Crane. »Ich glaube, wir werden das erleben, was meinst du?«
Das Feuerwerk erreichte sein Crescendo. Sterne explodierten zum rollenden Donner der Kanonenschläge: blau, violett, weiß. Ein gutes Omen für die neue Harding-Regierung. Hier im modernen Washington würde Crane Karriere machen, dachte Vale. Wie eine Rakete würde er aufsteigen.
Und ich werde in Vergessenheit geraten, und das ist vielleicht gut so.
New Orelans war warm, beinah schwül; der Frühling nahm tropische Formen an. New Orleans war eine seltsame Stadt, dachte Vale, so unamerikanisch. Sie nahm sich aus wie aus einer französisch-karibischen Kolonie importiert, lauter verspieltes Eisenzeug und Gewitter und weiches Kreolisch.
Das Apartment, das er unter einem Decknamen mietete, lag in einem schäbigen, ansonsten aber passablen Viertel. Er zahlte mit einem Bruchteil von Cranes Geld und machte sich gleich auf die Suche nach einem Büro im zweiten oder dritten Geschoss, wo sich ein wenig Spiritismus betreiben ließ. Er fühlte sich seltsam frei, als habe er seine Gottheit in Washington gelassen. Ein falsches Gefühl, wie er wusste, aber er wollte es auskosten, so lange es anhielt.
Sein Verlangen nach Morphium war nicht körperlich bedingt, vermutlich ein weiterer Nebeneffekt seiner Unsterblichkeit; doch er dachte mit Sehnsucht an den Rauschzustand zurück und verbrachte ein paar Abende damit, durch die Jazzbars zu ziehen, um eine Quelle aufzutun. Auf dem Heimweg — die Nacht war sternenklar und windig — fielen zwei Fremdlinge über ihn her. Die Männer waren muskulös, die Gesichter unter den Wollmützen der Navy waren grob, mehr war nicht zu erkennen. Sie schleppten ihn in eine Gasse hinter einem Tattoo-Laden.
Sie mussten ein Werkzeug der Götter gewesen sein, dachte Vale später. Das war die einzige Erklärung. Der eine hielt eine Flasche, der andere eine kurze Eisenstange mit Gewinde. Sie verlangten nichts, sie nahmen ihm auch nichts weg. Sie nahmen sich ausschließlich sein Gesicht vor.
Seine unsterbliche Haut platzte und ging in Fetzen, sein unsterblicher Schädel trug etliche Frakturen davon. Er verschluckte mehrere unsterbliche Zähne.
Er starb selbstverständlich nicht.
Zugewickelt mit Bandagen und ruhiggestellt, wie er war, hörte er, wie ein Arzt und eine Schwester sich im trägen Louisiana-Dialekt über seinen Fall unterhielten. Ein Wunder, dass er noch lebt. Weiß Gott, danach wird ihn kein Mensch mehr erkennen.
Kein Wunder, dachte Vale. Auch kein Zufall. Für die Götter, die in Washington seine Haut gegen die Morphiumspritze gefeit hatten, war es ein Leichtes, auch diese tödlichen Schläge abzufangen. Er war überrumpelt worden, weil er sich freiwillig nie hätte operieren lassen.
Keiner wird mich wiedererkennen.
Er heilte rasch.
Eine neue Stadt, ein neuer Name, ein neues Gesicht. Er gewöhnte sich ab, in den Spiegel zu sehen. Ein hässliches Gesicht stand seiner Arbeit nicht unbedingt im Wege.
Kapitel Vierundzwanzig
Guilford erreichte den Bodensee an einer Stelle, wo ein Gletscherbach in den See mündete, eisiges Wasser, das über glatte, schwarze Kiesel hüpfte. Rittlings auf der Wollschlange, die er Evangeline getauft hatte, folgte er langsam und akribisch der Uferlinie. ›Evangeline‹ nur deshalb, weil ihm der Name gefiel; das wirkliche Geschlecht des Tieres war ihm ein Rätsel. Die letzte Woche über hatte Evangeline mehr Nahrung aufstöbern können als Guilford, und ihre sechsgliedrigen Hufe kamen weit besser voran als seine streichholzdünnen Beine.
Eine freundliche Sonne vergoldete den Tag. Guilford hatte aus Seilen eine Art Sitzgeschirr gebastelt, das ihn selbst dann rittlings auf dem breiten Rücken von Evangeline hielt, wenn er die Besinnung verlor. Hinzu kam, dass er mitunter in einen nickenden Halbschlaf verfiel, der sein Kinn immer wieder auf die Brust sinken ließ. Doch die Sonne erlaubte ihm, einige Felle abzulegen, und es war eine Wohltat zu spüren, dass die Luft ihre tödliche Kälte verloren hatte.
Für eine Wollschlange war Evangeline ausgesprochen intelligent. Sie ging Insektenhalden selbst dann aus dem Weg, wenn Guilford sie verschlief. Sie kam nie weit vom Trinkwasser ab. Und sie hatte Respekt vor Guilford — vielleicht nicht so verwunderlich, nachdem er einen ihrer Artgenossen getötet und gekocht und den anderen freigelassen hatte.
Er behielt den Horizont im Auge. Er war so allein wie eh und je, erschreckend allein, in einem grenzenlosen Land mit finsteren Wäldern und abgrundtiefen Schluchten. Aber das war in Ordnung. Das Alleinsein war nicht so schlimm. Gefährlich wurde es immer nur, wenn andere auftauchten.