»Ich bin ein normaler Mensch«, sagte Guilford.
»Wünschen kann man sich vieles, hat meine Mutter immer gesagt. Egal.« Der Wollschlangenfarmer erhob sich ächzend. »Legen Sie sich aufs Ohr, Guilford Law. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns.«
Erasmus kam nicht wieder auf das Thema zu sprechen, und Guilford wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte andere Probleme, dringendere.
Auf der Wollschlangenfarm besserte sich sein körperlicher Zustand. Bis die Warenboote aus Jeffersonville eintrafen, konnte er schon ein Stück weit gehen, und zwar ohne zu humpeln. Er bedankte sich bei Erasmus und fragte ihn, was er denn von einem Argosy- Abonnement per Schiff halte.
»Gute Idee. Dieses Buch von Finch war langweilig. Vielleicht auch noch das National Geographic?«
»Abgemacht.«
»Science and Invention?«
»Erasmus, Sie haben mir am Bodensee das Leben gerettet. Alles, was Sie wollen.«
»Na ja — ich will nicht habgierig sein. Und ich bezweifle, ob ich Ihnen das Leben gerettet habe. Ob Sie leben oder sterben, liegt nicht in meinen Händen.«
Erasmus hatte seine Ware in zwei flache Flussboote geladen, die auf einen Broker aus Jeffersonville hörten. Das war Guilfords Rückkehr an die Küste. Er hielt dem Farmer die Hand hin.
»Und wegen Evangeline…«
»Keine Sorge. Sie kann tun und lassen, was sie will. Gibt man dem Tier erst einen Namen, hat der gesunde Menschenverstand verloren.«
»Danke.«
»Wir sehen uns«, sagte Erasmus. »Und denken Sie an meine Worte, Guilford.«
»Mache ich.«
Aber nicht jetzt.
Der Flussschiffer erzählte ihm von den Scherereien mit England. Ein Seegefecht und streng zensierte Nachrichten über den Äther. »Es heißt aber, wir hätten sie vernichtend geschlagen.«
Die Boote kamen gut voran, das Land wurde flacher, der Rhein breiter. Die Tage waren jetzt wärmer, die Rheinmarsch lag smaragdgrün unter einem heiteren Frühlingshimmel.
Er folgte dem Rat von Erasmus und kam anonym in Jeffersonville an. Die Stadt war gewachsen, seit Guilford sie zuletzt gesehen hatte, mehr Fischerhütten und drei neue Gebäude auf dem festen Grund bei den Docks. Mehr Boote lagen in der Bucht, aber keine Kriegsmarine; die Basis der Navy lag fünfzig Meilen weiter südlich. Keine Fracht für London — jedenfalls keine legale.
Er sah sich nach Tom Compton um, aber die Hütte des Grenzers war verwaist.
Im hiesigen Büro der Western Union veranlasste er eine Geldanweisung; er konnte nur hoffen, dass Caroline in der irrigen Annahme, er sei tot, sein Bostoner Konto nicht aufgelöst hatte. Der Transfer funktionierte einwandfrei, eine Nachricht kam allerdings nicht durch nach London. »Nach dem, was man so hört«, erklärte ihm der Telegraphist, »gibt es da wohl keinen Kollegen mehr.«
In der Hafenkneipe, wo er den Mann treffen sollte, der ihn über den Kanal bringen würde, erfuhr er von einem betrunkenen amerikanischen Matrosen vom Angriff auf London.
Guilford trug einen zweireihigen Mantel aus grobem Wollstoff und eine Wollmütze, tief in die Stirn gezogen. Die Schenke war randvoll und zugequalmt. Er setzte sich auf einen Schemel am Ende der Bar, was aber nichts daran änderte, dass er das eine oder andere aus dem allgemeinen Stimmengewirr aufschnappte. Erst als ein dickleibiger Matrose am nächsten Tisch etwas über London sagte, spitzte Guilford die Ohren. Es fielen die Worte ›Feuer‹ und ›gottverdammte Wildnis‹.
Er ging an den Tisch, an dem der Seemann mit einem anderen saß, einem schlaksigen Neger. »Entschuldigen Sie«, sagte Guilford. »Ich wollte nicht mithören, aber sie haben doch London erwähnt? Ich bin ganz wild auf Einzelheiten… meine Frau und meine kleine Tochter sind da.«
»Ich hab selbst ein paar Bastarde da zurückgelassen«, sagte der Matrose. Sein Lächeln verzog sich, als er Guilfords Miene sah. »Nichts für ungut… ich weiß nur, was ich gehört habe.«
»Sie waren da?«
»Nicht mehr seit dem Beschuss. Ich hab einen Heizer getroffen, der mit einem Kanonenboot themseauf gewesen sein will. Quatscht aber viel, wenn er trinkt, und was er von sich gibt, ist nicht immer die lautere Wahrheit.«
»Ist er in Jeffersonville?«
»Hat gestern abgelegt.«
»Was hat er über London erzählt?«
»Dass es beschossen wurde. Dass es völlig niedergebrannt ist. Aber reden kann man viel. Sie wissen ja, wie das ist. Jesus, Sie müssten sich mal sehen. Sie sind ja ganz durch den Wind, Mann. Der Drink geht auf meine Rechnung.«
»Danke«, sagte Guilford. »Habe keinen Durst.«
Er heuerte einen Kanalskipper namens Hans Kohn an, der einen schäbigen, aber seetüchtigen Fischtrawler fuhr und bereit war, Guilford gegen Bargeld nach Dover zu bringen.
Das Schiff verließ Jeffersonville nach Einbruch der Dunkelheit, bei mäßiger Dünung und mondlosem Himmel. Zweimal änderte Kohn den Kurs, um Navy-Patrouillen auszuweichen, undeutlichen Silhouetten am violetten Horizont. Die Themse könne er sich aus dem Kopf schlagen, erklärte ihm Kohn. »Die ist abgeriegelt. Es gibt einen Landweg von Dover aus, eine unbefestigte Straße. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«
An einem grob gezimmerten Anlegesteg an der Küste von Kent ging Guilford an Land. Kohn machte kehrt. Guilford blieb eine Zeit lang auf dem knarrenden Dock sitzen und lauschte den Schreien der Ufervögel, derweil im Osten ein milchiges Zinnoberrot dämmerte. Die Luft roch nach Salz und Fäulnis.
Endlich auf englischem Boden. Das Ende der Reise oder zumindest der Anfang ihres Endes. Die Meilen, die er hinter sich gebracht hatte, fielen wie Bleigewichte von ihm ab, als sei er vom Grund des Ozeans aufgestiegen. Er dachte an seine Frau und sein kleines Mädchen.
Die Landroute von Dover nach London bestand aus einer Schneise, die man durch die Wildnis getrieben hatte, ein morastiger Pfad, stellenweise so schmal, dass ein Pferd mit Reiter in Bedrängnis kam.
Dover war ein blühendes Hafenstädtchen, das man in den kreidigen Küstenboden geschnitten hatte, umgeben von windgepeitschten Hügeln und endlosen blaugrünen Weiten aus Sternampfer und einem Ried mit Blattkrone, das die Einheimischen ›Shag‹ nannten, was so viel wie ›Struwwelkopf‹ heißt. Das Städtchen war kaum vom Krieg berührt worden; Lebensmittel gab es noch reichlich und Guilford konnte eine zugerittene Stute erstehen, die noch nicht zu alt war und die ihn nach London tragen würde. Er war nicht der geborene Reiter, empfand dieses Reittier aber verglichen mit Evangeline als Luxus.
Eine Zeit lang war er auf der Straße nach London allein, doch als er die Hochlandwiesen durchquerte, begegneten ihm die ersten Flüchtlinge.
Ein paar zerlumpte Reisende, manche waren beritten, andere zogen schlammverkrustete Karren, die mit Decken und Porzellan und ramponierten Teerruhen beladen waren. Er wechselte ein paar Worte mit den Leuten. Keiner hatte ermutigende Neuigkeiten, und die meisten scheuten zurück, wenn sie seinen Akzent hörten. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit traf er auf einen Trupp von etwa vierzig Familien, die am Hang eines Hügels kampierten, die Feuer glitzerten wie die Lichter einer lebhaften City.
Seine Gedanken kreisten immer nur um Caroline und Lily. Er befragte die Flüchtlinge ausgesucht höflich, fand aber niemanden, der die beiden kannte oder gesehen hatte. Entmutigt und einsam, wie er war, zügelte er sein Pferd und nahm die Einladung an, sich dem Kreis rings um ein Lagerfeuer anzuschließen. Freimütig teilte er seinen Proviant, erklärte seine Lage und erkundigte sich, was genau mit London passiert sei.