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Die Antworten waren kurz und schonungslos.

Die Stadt hatte unter Artilleriebeschuß gelegen. Die Stadt hatte lichterloh gebrannt.

Waren viele ums Leben gekommen?

Viele — wie viele, war schwer zu sagen, eine Zahl gab es nicht.

* * *

Als er sich der Stadt näherte, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass ihm jemand folgte.

Da war ein Gesicht, das er kannte, ein vertrautes Gesicht, und es tauchte wiederholt unter den immer zahlreicher werdenden Flüchtlingen auf oder hielt Schritt mit ihm auf der Waldstraße oder beobachtete ihn aus dem Gitterwerk aus Moscheebäumen und Pagodenfarnen. Das Gesicht eines Mannes, jung aber abgehärmt. Der Mann trug eine zerschundene Khaki-Uniform ohne Abzeichen. Der Mann sah dem Wachsoldaten aus Guilfords Träumen verdächtig ähnlich. So unsinnig das auch sein mochte.

Guilford versuchte, sich ihm zu nähern. Zweimal auf einer verwaisten Strecke tief im Zwielicht des Waldes, er blieb im Sattel und rief den Mann an. Aber niemand gab Antwort. Guilford hatte Herzklopfen und kam sich albern vor.

Wahrscheinlich gab es diesen Mann überhaupt nicht. Müde Augen und bange Gedanken spielten ihm einen Streich.

Doch er blieb auf der Hut.

* * *

Das Erste, was er von London sah, war die geschwärzte aber sonst unversehrte Kuppel der neuen St. Paul’s Cathedral, die über einem Feld aus Nebel und Trümmern brütete.

Eine provisorische Seilfähre trug ihn ans Nordufer der Themse. Anhaltender Nieselregen sprenkelte den turbulenten Fluss. Im baumlosen Gebiet westlich der Stadt fand er ein Flüchtlingslager, ein weitläufiges und stinkendes Durcheinander von Zelten und Latrinengräben, in dessen Mitte ein paar Rotkreuzfahnen schlaff im Regen hingen.

Guilford näherte sich einem der Versorgungszelte, an dem eine Schwester mit Haarnetz Decken ausgab. »Entschuldigen Sie«, sagte er.

Köpfe drehten sich, als sie seinen Akzent hörten. Die Schwester sah ihn flüchtig an, die Andeutung eines Nickens.

 »Ich suche jemanden«, sagte er. »Gibt es eine Möglichkeit… ich meine, irgendeine Liste…?«

Ein knappes Kopfschütteln. »Tut mir Leid. Wir haben es versucht, aber zu viele sind nach dem Feuer einfach losgezogen. Kommen Sie von New Dover?«

 »Ich bin über Dover gekommen, ja.«

 »Dann haben Sie ja gesehen, wie viele Menschen auf der Flucht sind. Trotzdem, versuchen Sie es am Kantinenzelt. Da kommen alle hin. Es steht auf der Westwiese.« Sie kippte den Kopf. »Diese Richtung.«

Sein Blick schweifte über etliche ausgedehnte Areale menschlichen Elends, die Stirn lag in Falten.

Die Schwester drückte ihr Kreuz durch. »Tut mir Leid«, sagte sie mit weicherer Stimme. »Ich will ja nicht rücksichtslos klingen. Es ist nur, weil… es sind so viele.«

* * *

Guilford steuerte auf das Kantinenzelt zu, als er das Phantom erneut sah; es hätte sein Schatten sein können, wie es durch den Morast und die zerrissenen Zelte und die qualmenden Feuer strich.

 »Mr. Law? Guilford Law?«

Erst dachte er, der Geist hätte ihn angesprochen. Dann sah er sich um und erblickte die zerlumpte Frau, die mit den Armen ruderte. Er brauchte einen Augenblick, bis er sie erkannte: Mrs. de Koenig, die Witwe, die neben Jered Pierce gewohnt hatte.

 »Mr. Law — sind Sie es wirklich?«

 »Ja, Mrs. de Koenig, ich bin es.«

 »Lieber Gott, und ich dachte, Sie wären tot! Alle haben gedacht, Sie wären auf dem Kontinent gestorben!«

 »Ich suche nach Caroline und Lily.«

 »Oh«, sagte Mrs. de Koenig. »Natürlich.« Doch das zahnlose Lächeln verblasste. »Natürlich tun Sie das. Ich will Ihnen was sagen. Genehmigen wir uns einen Drink, Mr. Law, Sie und ich, und dann reden wir darüber.«

Kapitel Fünfundzwanzig

Liebe Caroline!

Wahrscheinlich wirst du diesen Brief nie bekommen. Ich schreibe ihn, weil mir ein Funke Hoffnung bleibt.

Offensichtlich habe ich den Winter in Darwinia überlebt. (Von der Finch-Expedition haben nur ich und Tom Compton überlebt — wenn er denn noch am Leben ist.) Falls dich diese Nachricht zum ersten Mal erreicht, bist du hoffentlich nicht allzu erschrocken. Ich weiß, du hast geglaubt, ich sei auf dem Kontinent gestorben. Ich denke, im Großen und Ganzen erklärt diese Annahme dein Verhalten seit Herbst 1920.

Vielleicht denkst du, ich würde dich verachten oder dass ich nur schreibe, um meinem Zorn Luft zu machen. Na ja, der Zorn ist da. Ich wünschte schon, du hättest gewartet. Aber diese Frage ist müßig. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich war in der Wildnis und war lebendig; du warst in London und dachtest, ich sei tot. Sagen wir einfach, jeder hat entsprechend gehandelt.

Ich zögere, dir das zu schreiben (die Chance, dass du es liest, ist ohnehin gering). Aber die Gewohnheit, meine Gedanken an dich zu richten, ist mir zur zweiten Natur geworden. Und es gibt Dinge zwischen uns, die wir klären müssen.

Und ich möchte dich um einen Gefallen bitten.

* * *

Da ich die Notizen und Briefe an dich, die ich auf dem Kontinent geschrieben habe, beilegen werde, will ich die Geschichte jetzt zu Ende erzählen. Es ist etwas Außergewöhnliches geschehen, Caroline, und ich muss es zu Papier bringen, selbst wenn du es nie zu Gesicht bekommst (und das wäre vielleicht gut so).

Ich habe dich im zerstörten London gesucht. Kurz nach meiner Ankunft traf ich auf Mrs. de Koenig, unsere Nachbarin aus der Market Street. Von ihr erfuhr ich, dass du an Bord eines Mercy-Schiffs[39] nach Australien abgereist bist. Du wärst, wie sie sagte, mit Lily und diesem Mann (um nicht ›Deserteur‹ zu sagen, was er nach meinem Verständnis ja ist), diesem Colin Watson, an Bord gegangen.

Ich will nicht näher auf meine Reaktion eingehen. Es soll genügen, wenn ich sage, dass ich mich an die Tage danach wie durch einen Nebel erinnere. Ich verkaufte mein Pferd und gab das Geld für ein gut Teil dessen aus, was man aus den Brennereien der High Street hatte retten können.

Vergessen muss teuer bezahlt werden, Caroline. Nicht bloß in London. Das war schon immer so.

Viel später erwachte ich im Nebel auf offener Heide, unbarmherzig nüchtern und kalt bis ins Mark. Die Decke war durchnässt, auch die schmutzstarrende Kleidung. Der Morgen dämmerte herauf, kaum dass die Sonne den östlichen Himmel erhellte. Ich saß am Rand des Flüchtlingslagers und musterte die wenigen Feuer, die verwaist im Morgengrauen schwelten. Ich raffte mich auf. Ich fühlte mich verlassen und allein…

Aber ich war nicht allein.

Es war mehr die Ahnung eines Geräuschs, die mich veranlasste, mich umzudrehen…

Da war ich, ich selbst.

Ich weiß, wie seltsam das klingt. Und es war seltsam, seltsam und desorientierend. Man sieht nie sein eigenes Gesicht, Caroline, nicht einmal im Spiegel. Schon als Kinder posieren wir vor dem Spiegel, um unsere Schokoladenseite zu bewundern. Etwas ganz anderes ist es, wenn auf einmal jemand anderes dein Gesicht und deinen Körper hat.

Erst habe ich ihn nur angestarrt. Mir war sofort klar, dass das der Mann war, der mir auf meinem Ritt von New Dover nach London gefolgt war.

Es lag auf der Hand, warum er mir nicht eher aufgefallen war. Er war zweifellos ich selbst, aber eben nicht mein Spiegelbild. Ich will dir beschreiben, was ich sah: einen großen, jungen Mann in abgetragenen Militärsachen. Kein Hut, schlammverkrustete Stiefel. Er war stämmiger als ich, und er hinkte nicht. Er war glatt rasiert. Helle, wachsame Augen. Er lächelte, nichts Bedrohliches. Er trug keine Waffe.

Er sah harmlos aus.

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Schiffe, die u. a. medizinische Betreuung und Entwicklungshilfe leisten.