»Eine lange Geschichte«, meinte er.
Ich sagte, ich hätte nichts vor.
Das Leben nach dem Tode, sagte der Wachsoldat, habe er sich so nicht vorgestellt. Genau genommen habe es nichts Übernatürliches — es sei ein von Menschenhand (oder zumindest von intelligenten Geschöpfen) gemachtes Paradies, ein Artefakt wie die Brooklyn Bridge, zwar überdimensional aber eben doch endlich. Die geretteten Seelen von zahllosen Planeten seien in materiellen Strukturen miteinander vernetzt, die er ›Noosphären‹ nannte, planetengroße Maschinen, die wissbegierig und ohne Ende durch die Galaxie streiften. Ein Paradies, Caroline, aber kein Himmel, und nicht ohne Probleme und auch nicht ohne Feinde.
Ich wollte wissen, was für Feinde diese Götter denn hätten.
»Zwei«, sagte er.
Der eine sei die Zeit. Das Bewusstsein habe die Sterblichkeit besiegt, zumindest auf galaktischer Ebene. Denn schon vor dem Auftauchen der Menschheit sei jedes hinreichend mit Bewusstsein begabte Geschöpf, das im Einflussbereich einer Noosphäre gestorben sei, ins Paradies aufgenommen worden. (So auch jeder Mensch vom Neandertaler bis Präsident Taft und darüber hinaus. Manche hätten, wie er durchblicken ließ, einer ordentlichen Tracht an ›moralischer Wiederbelebung‹ bedurft, bis sie für das Leben nach dem Tode getaugt hätten. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann gehören wir zwar zu den beherzteren Spezies in der Galaxis, aber bei weitem nicht zu den Engeln.)
Doch das Bewusstsein an sich sei sterblich und auch die Milchstraße sei es und das ganze Universum! Er benutzte Begriffe wie ›Partikelzerfall‹ und ›Wärmetod‹, ich habe nur mit halbem Ohr hingehört. Es lief darauf hinaus, dass die Materie selbst zu guter Letzt vergehen würde. Doch mit all ihrer zur Verfügung stehenden Intelligenz hätten die Noosphären einen Weg gefunden, ihre Existenz über diesen Punkt hinaus zu verlängern. Und sie hätten es fertiggebracht, ein ›Archiv‹ zu bauen, um die ganze Geschichte des Bewusstseins zu speichern, ein allumfassendes historisches Archiv, das nicht nur von den Noosphären konsultiert würde, sondern auch von ähnlichen Entitäten in anderen, unsäglich fernen Galaxien.
Ein Feind war also die Zeit, und dieser Gegner sei, wenn nicht besiegt, dann doch zumindest kaltgestellt.
Den anderen Feind nannte er Psileben, von dem griechischen Buchstaben Psi, für ›Pseudo‹.
Psileben sei das Resultat von Anstrengungen, mit Maschinen die Evolution nachzuahmen.
Maschinen könnten, so behauptete er, in gewissen Grenzen Bewusstsein erlangen. (Ich glaube, er benutzte die Begriffe ›Bewusstsein‹ und ›Maschinen‹ in einem technischen Sinne, aber ich habe nicht nachgehakt.) Sowohl das organische wie auch das echte künstliche Bewusstsein würden sich etwas zunutze machen, das er ›Quantenunbestimmtheit‹ nannte, während Psileben so etwas wie Mathematik sei.
Das Psileben habe so genannte ›Systemparasiten‹ erzeugt oder — wie er es noch nannte — ›geistlose Algol-Rhythmen, die Jagd auf komplexe Strukturen machen, sich darin einnisten und sie von innen auffressen‹.
Ein Algol-Rhythmus hätte so wenig Hass auf ein bewusstes Lebewesen wie eine Tarantelwespe auf die Spinne, in die sie ihre Eier lege. Psileben unterwandere bewusste ›Systeme‹ und schmarotze von ihrem Bewusstsein. Es benutze Kommunikation und Denkprozesse, um Kopien von sich selbst anzufertigen, die sich wiederum kopieren würden und so weiter und so fort…
Und Psileben, das nach geltendem Maßstab weder mit Bewusstsein begabt sei noch mit Individualität, könne gleichwohl beide Eigenschaften simulieren — könne mit einer Art konzertierter wenn auch nur ameisenhafter Intelligenz agieren, einer blinden Klugheit. Stell dir, wenn du kannst, eine weitverzweigte Intelligenz vor, die absolut keinen Verstand hat.
Psileben sei immer mal wieder an den verschiedensten Orten des Universums entstanden. Eine Bedrohung des Bewusstseins, die immer wieder zurückgeschlagen, nie aber ausgerottet worden sei. Das Archiv habe man allerdings für uneinnehmbar gehalten, für immun gegen Psileben; und dem Zerfall der herkömmlichen Materie würden auch diese virulenten Algol-Rhythmen nicht entgehen.
Nur dass man sich geirrt habe.
Das Archiv sei von Psileben befallen worden.
Das Archiv.
Caroline, wie, würdest du sagen, müsste aus göttlicher Sicht die ultimate Geschichtsschreibung aussehen?
Doch nicht wie jemandes Interpretation der Vergangenheit, und wenn sie noch so geistvoll und objektiv wäre. Auch nicht wie die Vergangenheit an sich, die weiß Gott schwierig zu konsultieren wäre.
Nein, das ultimate und praktikable Geschichtsbuch wäre Geschichte im Spiegel betrachtet, die originalgetreue und irgendwie zugängliche Wiedererschaffung der Vergangenheit, ein Buch, das man aufschlagen kann und das in all seinen ursprünglichen Sprachen und Dialekten zu einem spricht; ein originalgetreues Arbeitsmodell, aus dem zum Zwecke der Vereinfachung alle Leerräume entfernt wurden und das dem befreiten Geist auf eine Weise offensteht, die jedwede Veränderung oder Störung des Inhalts ausschließt.
Das Archiv sei statisch, weil sich Geschichte nicht ändere, aber es sei in großen Abständen von etwas durchdrungen worden, das der Wachsoldat ein ›Higgs-Feld‹ nannte und das er mit der Nadel eines Grammophons verglich, die den Rillen einer Schallplatte folgte. Die Aufzeichnung bleibe unverändert, aber das dynamische Ereignis — die Musik — werde aus diesem fixierten Objekt abgerufen.
In einer gesunden Welt bleibe die Musik der Platte natürlich immer dieselbe. Was aber, wenn man eine Symphonie von Mozart auflegt und diese sich mittendrin in die Zauberflöte verwandelt?
Benommen, wie ich war, begriff ich dennoch, worauf er hinauswollte.
Der so genannte Weltkrieg des Wachsoldaten war die Mozartsymphonie. Die Verwandlung Europas war die Zauberflöte.
»Soll das heißen, wir existieren im Archiv?«
Er nickte seelenruhig.
Mir lief ein Schauder den Rücken hinunter. »Soll das heißen — willst du damit sagen, ich bin so etwas wie ein Kapitel in einem Geschichtsbuch — vielleicht nur eine Seite darin oder ein Abschnitt?«
»So warst du gedacht«, sagte er.
Daran hatte ich natürlich schwer zu schlucken, zumal ich hellwach und all meiner Sinne mächtig war. Caroline, solltest du das jemals lesen, musst du denken, ich sei völlig übergeschnappt…
Und vielleicht bin ich das ja auch. Es wäre mir fast lieber so.
Ich frage mich nun, ob dieser Brief wirklich an dich gerichtet ist… an dich, meine ich, an die Caroline in Australien… oder an die andere Caroline, deren Bild ich mit in die Wildnis genommen habe und die mir Kraft gegeben hat.
Vielleicht ist sie ja noch nicht völlig aus der Welt, diese Caroline. Vielleicht blickt sie dir ja beim Lesen über die Schulter.
Begreifst du die Ungeheuerlichkeit dessen, was mir dieses Gespenst mitgeteilt hat?
Behauptet — am helllichten Tag und unverblümt —, die Welt ringsherum, unsere Welt, deine und meine, sie sei nichts weiter als eine Illusion, abgespielt von einer Maschine am Ende der Zeit…
Das ging weit über mein Fassungsvermögen hinaus, trotz meiner Wertschätzung der Herren Burroughs, Verne und Wells.
»Besser kann ich es nicht erklären«, sagte der Wachsoldat. »Ich kann dich nur bitten, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«