Aber nicht endgültig.
Jüngste Ereignisse hatten ihn auf den Plan gerufen. Das Higgs-Feld, das durch das Archiv strich, um ontologische Zeit zu generieren, hatte Hinweise auf eine neuerliche Unterwanderung. Ein neues Armageddon stand bevor. Eine neue Schlacht.
Das alles nahm er unmittelbar wahr: den Schacht und seine eigene Inkarnation namens Guilford Law, den Kontinent, den einige Darwinia nannten; ja, sogar die veränderte Marslandschaft mit ihren ahistorischen Saat-Seelen, die um Autonomie rangen. Vergangene und künftige Krisen.
Er konnte nicht eingreifen, nicht unmittelbar. Sich eine Inkarnation gefügig zu machen, wie es die Psionen taten, war undenkbar für ihn. Er respektierte die sittliche Freiheit der Saat-Leben. Sehr behutsam näherte er sich seiner Inkarnation. Er gab sich alle Mühe, sich auf das geistige Niveau dieses Guilford Law einzulassen… das schlichte, sterbliche Etwas zu werden, das er einst gewesen war.
Es war schon sonderbar, den Kern des Ichs wiederzuentdecken, jenes chaotische Bündel aus Ängsten und Bedürfnissen und Ambitionen, den Keim allen Bewusstseins. Er dachte unter anderem:
Dasda war einmal ich. Das war einmal alles, was von mirexistierte, verletzlich und allein und verängstigt, weit und breit kein anderes Ich. Ein Funke auf einem Meer an unbeseelter Materie.
Eine Welle von Mitleid erfasste ihn.
Er trat seiner Inkarnation unter die Augen, freilich nur als Phantom, etwas Handfesteres ließ die Ontosphäre des Archivs nicht zu. Eine Schlacht stehe bevor, erklärte er ihr. »Du hast eine Rolle zu spielen. Ich brauche deine Hilfe.«
Seine Inkarnation hörte sich Guilfords schwerfällige Ausführungen an. Sie gerieten plump, primitiv, ungenau.
Und dann wies sie ihn zurück.
»Du kannst mir viel erzählen.« Was der jüngere Guilford ihm sagte, klang freimütig und endgültig. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist oder ob du die Wahrheit sagst. Was du da von dir gibst, hört sich an wie finsteres Mittelalter — Geister und Dämonen und Ungeheuer, wie in einer Moritat aus dem zehnten Jahrhundert.«
Das kindliche Bewusstsein war verbittert. Seine Frau hatte ihn verlassen. Er hatte Dinge erlebt, die seinen Horizont überstiegen. Er hatte seine Landsleute sterben sehen.
Der ältere Guilford konnte ihn verstehen.
Er erinnerte sich an Bois Belleau und Bouresches. Er erinnerte sich an ein Weizenfeld mit rotem Klatschmohn. Er erinnerte sich an Tom Compton, der im Feuer eines Maschinengewehrs starb. Er erinnerte sich an Kummer und an Leid.
Drittes Buch
Juli 1945
»For each age is a dream that is dying, or one that is coming to birth.«[41]
Kapitel Sechsundzwanzig
Im Tiefland von Kampanien hatte man viele alte Namen Wiederaufleben lassen. Die Bucht von Neapel öffnete sich nach wie vor auf das Tyrrhenische Meer, wurde immer noch vom Capo Miseno und der Halbinsel von Sorrent flankiert und immer noch von einem aktiven Vesuv beherrscht (obwohl ihn die ersten Siedler ›Old Smoky‹ genannt hatten). Der Boden konnte bestellt werden, das Klima war leidlich mild. Der trockene Frühlingswind, der von Nordafrika herüberwehte, hieß immer noch Schirokko.
Die Siedlungen an den Hängen und auf den Hügeln trugen eigenwillige Namen: Oro Delta, Palaepolis, Fayetteville, Dawson City. Die Jünger des utopistischen Upton Sinclair hatten auf der früheren Insel Kapri ihr Mutualville gegründet, doch die streng konzipierte Kommune hatte im Laufe der Zeit Zugeständnisse an den Handel machen müssen. Der Hafen war inzwischen ausgebaut worden. Wo einst nur Fischerboote und Trawler gelegen hatten, gehörten jetzt amerikanische Öltanker zum Bild, Frachter aus Afrika und Schiffe, die Flüchtlinge aus den marodierenden Regionen Ägyptens und Arabiens brachten.
Fayetteville war nicht die größte Siedlung an der Bucht. Heute war das Städtchen eher ein Ableger, den Oro Delta die Küste hinunterschickte, um Bauern und Landarbeiter zu versorgen. Das Tiefland war reich an Mais, Weizen, Zuckerrüben, Oliven, Nüssen und Hanf. Das Meer lieferte Docketfisch, Scheinkrabben und Salzsalat. Nichts Einheimisches wurde angebaut, aber die Gewürzläden waren voll mit Dingonüssen, Weinsamen und Ingwerflachs aus der Wildnis.
Guilford gefiel der Ort. Er hatte erlebt, wie Fayetteville von der Grenzsiedlung der Zwanzigerjahre zu einem blühenden, relativ modernen Gemeinwesen herangewachsen war. Jetzt gab es Strom in Fayetteville und all den anderen neapolitanischen Orten. Straßenlaternen, gepflasterte Straßen, Gehsteige, Kirchen. Und Moscheen und Tempel für die Araber und Ägypter, die sich aber eher an das Hafenviertel von Oro Delta hielten. Ein Kino, das hauptsächlich Western zeigte und die absurden Abenteuerstreifen über Darwinia, die Hollywood am laufenden Band produzierte. Und all die weniger geschmackvollen Annehmlichkeiten wie Bars, Rauchersalons und sogar ein Bordell draußen an der Follet Road gleich hinter der Kiesgrube.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte in Fayetteville jeder jeden gekannt. Heutzutage musste man auf den Straßen mit lauter fremden Gesichtern vorliebnehmen.
Obwohl die vertrauten Gesichter häufig beunruhigender waren.
Guilford hatte neulich ein vertrautes Gesicht gesehen.
Es hielt Schritt mit ihm, wenn er auf den hügeligen Landstraßen spazierenging. Den ganzen Frühling über hatte es sich immer mal wieder gezeigt: hatte aus einem Weizenfeld gestarrt oder hatte sich im Küstennebel verloren.
Die Gestalt trug eine zerlumpte und altmodische Uniform. Das Gesicht sah aus wie seines. Es war sein Doppelgänger: der Geist, der Soldat, der Wachsoldat.
Nicholas Law, der mit seinen zwölf Jahren ganz versessen war, auch den letzten Rest der Sommersonne auszunutzen, entschuldigte sich und sauste zur Tür hinaus. Das Fliegengitter rasselte hinter ihm ins Schloss. Durchs Fenster konnte Guilford ihn gerade noch sehen, nicht mehr als eine gestreifte Strickjacke, die vor dem Himmel, der Landspitze und dem abendblauen Meer bergab fegte.
Abby kam aus der Küche, wo sie den Nachtisch aus dem Kühlschrank genommen hatte. Etwas mit Eiscreme. Eiscreme aus dem Laden, für Guilford immer noch etwas gänzlich Neues.
Sie hielt inne, als sie den leeren Platz sah. »Er konnte wohl nicht auf den Nachtisch warten?«
»Sieht so aus.« Baseball bei Abendlicht, dachte Guilford. Der große Rasenplatz vor der Fayette-Schule. Er empfand plötzlich so etwas wie Heimweh.
»Hast du auch keine Lust mehr?«
Sie trug zwei kleine Teller. »Ich probier mal«, sagte er.
Sie setzte sich vis-à-vis, ihr gutmütiges Gesicht bekam einen skeptischen Zug. »Du hast abgenommen«, sagte sie.
»Ein bisschen. Muss nichts heißen.«
»Du bist zu oft allein unterwegs.« Sie kostete von der Eiscreme. Guilford bemerkte vereinzelte silbrige Fäden an den Schläfen. »Heute war ein Mann hier.«
»Aha?«
»Ob das hier das Haus von Guilford Law wär, wollte er wissen. Ich habe ja gesagt, und er wollte wissen, ob du der Photograph mit dem Laden in der Spring Street wärst. Ich habe ja gesagt, und dass er dich dort erreichen könnte.« Ihr Löffel schwebte über dem Dessert. »War das richtig?«
»Goldrichtig.«
»War er im Laden?«
»Vielleicht. Wie sah der Gentleman aus?«
»Dunkel. Er hat so merkwürdig geguckt.«
»Merkwürdig? Wie meinst du das?«
»Einfach nur merkwürdig.«
Die Geschichte mit dem Fremden an der Tür und Abby, die ihm aufgemacht hatte, warf ihn aus der Bahn. »Mach dir keine Gedanken.«