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 »Ich mach mir keine Gedanken«, sagte Abby bedächtig. »Es sei denn, du machst dir welche.«

Lügen wollte er nicht. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Also schüttelte er nur den Kopf. Sie wollte wissen, was nicht stimmte, und ihm fehlten die Worte.

Er hatte nie darüber gesprochen… zu niemandem. Außer in diesem lange zurückliegenden Brief an Caroline.

Immerhin war der Mann an der Haustür nicht sein Doppelgänger. Man vergisst, dachte er, nach so vielen Jahren. Wenn eine Erinnerung so abwegig ist, so aus dem Rahmen des rauen Alltags fällt, dann kommt sie einem einfach abhanden… oder sie tickt wie die Erbse in einer Trillerpfeife unterschwellig vor sich hin. Bis man mit der Nase darauf gestoßen wird. Dann kommt sie wieder ans Licht der Sonne, frisch wie ein alter Traum aus dem Kühlschrank, ausgepackt und glitzernd.

Bis jetzt waren es nur flüchtige Eindrücke gewesen -Vorboten vielleicht; Omen; Ausreißer. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, dieses jugendliche Gesicht, das ihn in einer Menschenmenge verfolgte, um plötzlich nicht mehr da zu sein, das wie Treibgut aus abenddunklen Gassen starrte. Er wollte, dass es nichts zu bedeuten hatte. Er befürchtete das Gegenteil.

Abby aß den Nachtisch zu Ende und räumte ab. »Heute kam Post aus New York«, sagte sie. »Sie liegt in deinem Sessel.«

Er war froh, von seinen düsteren Gedanken erlöst zu werden. Er ging ins ›Wohnzimmer‹, wie Abby das lange Südende des einfachen, rechteckigen Hauses nannte, das Guilford vor gut zehn Jahren gebaut hatte. Er hatte die Mauern hochgezogen, die Zimmermannsarbeiten gemacht und das Fundament gegossen; ein ansässiger Unternehmer hatte das Haus verputzt und mit Schindeln gedeckt. In warmen Gegenden waren die Häuser unkomplizierter. Abby und Nicholas hatten es zum Leben erweckt, mit gerahmten Bildern und Tischdecken und Sesselschonern, unter den Möbeln lauerten Gummibälle und Holzspielzeug.

Die Post belief sich auf etliche ältere Ausgaben von Astounding und einem Stapel New Yorker Zeitungen. Die Zeitungen lasen sich deprimierend: Einzelheiten über den Krieg mit Japan, bessere Berichte als die von den Nachrichtenagenturen im Fayetteville Herald, aber älter eben.

Guilford widmete sich zuerst den Magazinen. Seine Vorliebe fürs Phantastische war in den Jahren, nachdem er Caroline und Lily verloren hatte, abgeflaut, doch die jüngeren Magazine hatten ihn wieder heimgeholt. Riesige Luftschiffe, Reisen zu den Planeten, außerirdisches Leben: Das alles kam ihm heute glaubwürdiger und zugleich unglaubwürdiger vor als früher. Wie auch immer, die Geschichten schlugen ihn in ihren Bann.

Nur heute Abend nicht. Heute Abend las er ganze Seiten, ohne zu wissen, was er gelesen hatte. Schließlich starrte er nur noch auf die grellbunten und unsäglich vielversprechenden Umschlagbilder…

Er war im Sessel eingenickt, als er das laute Gebimmel hörte, mit dem sich der Löschzug seinen Weg von der Feuerwache oben auf dem Lantern Hill in die Stadt bahnte.

Dann klingelte das Telephon.

Telephone waren noch keine Selbstverständlichkeit für Fayetteville, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, eines im Haus zu haben, obwohl er schon über ein Jahr lang eines in seinem Laden benutzte. Das rasselnde Klingeln schrappte wie ein Fischmesser an seinem Rückgrat entlang.

Die Stimme am anderen Ende gehörte Tim Mackelroy, seinem Assistenten. Komm schnell, sagte Tim, Jesus, es ist furchtbar, aber komm schnell, der Laden brennt ab.

Kapitel Siebenundzwanzig

Guilford hatte außerhalb der Stadt gebaut, eine halbe Meile von der nächsten gepflasterten Straße entfernt. Von der Haustür aus konnte er Fayetteville sehen, ein fernes Gitter aus Straßen und Häusern, und eine Rauchfahne, die wahrscheinlich aus der Spring Street stieg.

Er müsse sich überzeugen, sagte er zu Abby. Sie solle nicht aufbleiben und auf ihn warten. Er würde anrufen, sobald er Genaues wisse. Bis dahin solle sie sich keine unnützen Sorgen machen; schlimmstenfalls sei das Geschäft bei der Oro Delta versichert. Sie würden es wiederaufbauen.

Abby sagte nichts, küsste ihn nur und sah ihm vom Fenster aus nach, wie er mit dem zerbeulten Ford in einer wallenden Staubwolke verschwand.

Es war ein staubiger Monat gewesen. Der Himmel war grellbunt und im Westen berührte die Sonne jeden Moment das Meer.

* * *

Guilford überholte Nick, der noch immer in Richtung Stadt radelte, hielt kurz an, um Nicks Rad hinten in den Wagen zu werfen und vorne für den Jungen Platz zu machen.

Nick hörte mit ernster Miene zu, aber Nicks Miene war oft so ernst. Große Augen, schmales Gesicht. Ihm standen immer kleine Falten zwischen den Brauen. Nick kannte kein Lächeln, nur verschiedene Arten, die Stirn zu krausen. Selbst wenn er am glücklichsten war — spielte, las, an seinen Modellen werkelte —, runzelte er konzentriert die Stirn und presste die Lippen zusammen.

 »Wie konnte das Studio denn Feuer fangen?«, fragte Nick.

Guilford sagte, er wisse es nicht. Es sei noch zu früh, um Genaueres zu sagen. Erst müsse er sich vergewissern, dass Tim Mackelroy wohlauf sei, dann könne man immer noch retten, was zu retten sei.

Der herrenlose Hang wurde von terrassierten Feldern abgelöst. Guilford bog auf die geteerte Landstraße ein. Der Verkehr war spärlich, nur ein paar Autos, ein paar Fuhrwerke aus der Amish-Siedlung weiter oben in Richtung Palaepolis und zwei Lkws, die leer von den Kornspeichern kamen. Follette Road hieß die Hauptstraße von Fayetteville, und sowie er am Lebensmittel- und Getreidespeicher um die Ecke bog, gewahrte er den Rauch. Ein Löschfahrzeug versperrte die Kreuzung Follette und Spring Street.

Es war nicht viel übrig von Law & Mackelroy, Photographers. Ein paar verkohlte Balken. Ein Geviert aus verrußten Ziegelsteinen.

 »Wow«, hauchte Nick, die Augen stumpf vor Rauch.

* * *

Guilford fand Tim Mackelroy, der unter der Markise des Tyrrhenischen Tonfilmtheaters stand. Rauch und Tränen hatten ihm Streifen ins Gesicht gemalt.

Der Löschwagen des FFD[42] bestrich die schwelende Ruine beharrlich mit Wasser. Die Menschenmenge löste sich allmählich auf. Guilford kannte die meisten: den Anwalt aus Tunneys Kanzlei, die Verkäuferin von Blake’s; Molly und Kate aus dem Lafayette Diner. Als sie ihn sahen, wurden die Mienen teilnahmsvoll und man verdrückte sich. Guilford schickte Nick in den Wagen zurück, bevor er mit Mackelroy redete.

Seit 1939, als das Geschäft zu florieren begann, war Tim sein Kompagnon. Tim kümmerte sich um die kaufmännische Seite, während Guilford sich aufs Portraitieren konzentrierte und die meiste Zeit im Atelier verbrachte. Das Geschäft lief gut — oder war gut gelaufen. Die Arbeit war großenteils Routine, na und? Ihm gefiel das Photographieren, die Arbeit in der Dunkelkammer und dass dabei das Haus auf der Landspitze, Nicks Schulgeld und eine sorgenfreie Zukunft für ihn und Abby herumkam. Gelegentlich reparierte er Radioempfänger. Noch bevor der Funkturm oberhalb von Palaepolis in Betrieb ging, hatte er sich mit Edicron- und G.E.-Empfangsröhren eingedeckt — eine Zeit lang boomte das Geschäft, denn die Hälfte der Radios, die man aus den Staaten importierte, hatten, wenn sie hier ankamen, schadhafte Röhren, von der Salzluft zerfressene Lötstellen oder durch die Seereise gelockerte Teile.

Die Zeit nach London war nicht leicht gewesen. Die ersten fünf Jahre hatte Guilford in Oro Delta verbracht, auf Hafenbooten gearbeitet oder Getreide eingefahren, schwere Arbeit, die wenig Raum zum Nachdenken ließ. Die Nächte waren besonders hart gewesen. Die kampanischen Farmen hatten bereits 1921 reiche Ernten an Korn und Trauben eingefahren, sodass es nicht an hiesigem Schnaps und Wein mangelte und Guilford Trost in der Flasche fand — manchmal mehr als ihm zuträglich war.

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42

Fayetteville Fire Department.