Die Alten Männer waren keine richtigen Menschen.
Auf derlei hatte Abby nie etwas gegeben. Sie hatte zugehört, und sie hatte still in sich hineingelächelt.
Aber vor zwei Wintern, da war Guilford beim Holzhacken gewesen, draußen hinter dem Haus, als ihm der Stiel des alten Beils aus der Hand gerutscht und die Schneide tief ins Fleisch unter dem linken Knie gefahren war.
Die bleiche Sonne war noch am Himmel gewesen. Abby hatte am frostgerahmten Fenster gestanden und alles ganz deutlich gesehen. Sie hatte gesehen, wie die Schneide ins Bein fuhr — er hatte zerren müssen, als hätte das Beil in einem nassen Stück Holz festgesessen — und Abby hatte das Blut auf der Schneide gesehen und das Blut auf dem hart gefrorenen Boden. Ihr Herz schien stillzustehen. Guilford, plötzlich weiß im Gesicht, ließ die Axt los und fiel…
Abby rannte zur Hintertür, doch bis sie bei ihm war, da hatte er tatsächlich wieder auf den Füßen gestanden. Sie hatte es nicht fassen können. Er hatte ganz merkwürdig dreingesehen, wie ein geprügelter Hund. Oder jemand, der sich schämt.
»Ist noch mal gutgegangen«, sagte er. Abby war bestürzt. Aber dann zeigte er ihr die Wunde: Sie war bereits geschlossen — wo die Schneide eingedrungen war, war nur mehr eine hauchzarte rote Linie zu sehen.
So etwas gibt es nicht, hatte Abby gedacht.
Es sei nicht der Rede wert. Es sei nur ein Kratzer, beteuerte er; und wenn sie mehr gesehen habe, dann weil ihr die tief stehende Sonne einen Streich gespielt habe.
Und am nächsten Morgen, als er sich anzog, da hatte nicht einmal mehr eine Narbe an den Vorfall erinnert.
Und Abby hatte den Vorfall auf sich beruhen lassen, weil Guilford es so wollte und weil sie einfach nicht verstand, was sie da gesehen hatte — vielleicht hatte er ja Recht, vielleicht hatte sie sich getäuscht, obgleich das Blut am Boden und das an der Axt etwas ganz anderes sagten.
Wenn man so etwas erlebt hat, dachte Abby, kann man es nicht wieder vergessen.
Von da an weiß man, dass nicht alles so ist, wie es den Anschein hat. Dass Guilford mehr war, als sie wissen durfte; und dass sie beide folglich nie ein ganz normales Leben führen würden. Eines Tages, hatte Abby sich gesagt, wird die Wahrheit uns einholen.
War das der Tag?
Sie wusste es nicht. Aber die Haut des Anscheins hatte einen Riss bekommen. Und diese Wunde heilte vielleicht nie mehr.
Hinter der Ulme, die Guilford vor zehn Jahren gepflanzt hatte, saßen die beiden Männer im abschüssigen Gras.
Abby packte. Nick packte auch, der Junge freute sich auf den Ausflug, merkte aber, dass etwas nicht stimmte. Guilford sah ihn in der Haustür stehen und herüberspähen. Die bärtige Erscheinung neben seinem Vater gab dem Jungen sichtlich zu denken.
»Ich hab das auch nicht gewollt«, sagte Tom Compton. »Wer lässt sich schon gerne sein Leben von einem Gespenst vermasseln. Aber früher oder später, da muss man den Tatsachen ins Auge sehen.«
»Dinge und Handlungen sind, was sie sind, und ihre Folgen werden sein, was sie sein werden; warum also sollten wir hoffen, uns getäuscht zu haben?«
»Hat Sullivan das nicht gepredigt?«
»Tja, das waren seine Worte.«
»Ich vermisse den Dummkopf.«
Statt auf seine Mutter zu warten, kam Nick mit einem Baseball und einem Handschuh aus dem Haus und fing an, mit sich selbst ›Fangen‹ zu spielen, wobei er den Ball hoch in die Luft warf und losrannte, um ihn aufzufangen. Das aschblonde Haar fiel ihm immerzu in die Augen.
Ein Haarschnitt ist fällig, dachte Guilford. Sonstkann er sich das Centerfield aus dem Kopf schlagen.
»Fand mich zum Kotzen in diesem schmierigen Soldatenzeug«, sagte der Grenzer. »Zum Kotzen, dieses Gespenst, das dir auf Schritt und Tritt folgt und dir Sachen erzählt, die du nicht hören willst. Du weißt, wovon ich rede.« Er ließ Guilford nicht aus den Augen. »Das ganze Zeug mit diesem Archiv und so viel Millionen Jahre dies und so viel das. Du hörst eine Zeit lang zu und willst ihm jeden Moment das Maul stopfen. Aber dann hab ich mit Erasmus geredet, die alte Flussratte, du weißt schon, und er hat mir dasselbe verdammte Zeug erzählt.«
Nicks Baseball stieg in den blauen Himmel, kreuzte den blassen Mond. Abbys Silhouette durchquerte ein Fenster im oberen Stock.
»Jede Menge von uns sind in diesem Weltkrieg krepiert. Die Gespenster haben nicht bei jedem angeklopft. Nur bei denen, die sie kannten. Sie haben einfach die Chance gesehen, dass wir vielleicht mitmachen, vielleicht ein paar Leben retten. Sie wollen einfach nur Leben retten.«
»Sagen sie.«
»Und diese anderen Arschlöcher, ihre Feinde und die Scheißkerle, die sie sich unter den Nagel reißen, die sind verdammt gefährlich. Fast so schwer zu töten wie wir, und sie bringen Männer, Frauen und Kinder um, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Und das weißt du ganz sicher?«
»Hundertprozent. Ich hab dazugelernt — ich hab den Kopf seit zwanzig Jahren aus dem Sand. Wer, meinst du, hat deinen Laden abgefackelt?«
»Weiß nicht.«
»Sie müssen gedacht haben, du wärst noch drin. Das sind keine Scharfschützen, wenn du weißt, was ich meine. Die schießen mit Schrot. Pech, wer ihnen in die Quere kommt.«
Abby kam in die Sonne und pflückte Wäsche von der Leine. Vom Meer wehte eine Brise herauf. Laken, die sich wie Großsegel blähten.
»Die Leute, gegen die wir antreten sollen, sind Werkzeuge der Psionen. Man hat sie aus demselben Grund rekrutiert, wie man uns rekrutiert hat — weil sie mitmachen werden. Das sind keine anständigen Leute. Die ticken anders. Manche sind nur Ganoven, manche sind Killer.«
»Kannst du mir sagen, was Lily in Oro Delta macht?«
Der Grenzer stopfte sich eine neue Pfeife. Abby faltete Wäsche in einen Weidenkorb und warf ab und zu einen Blick herüber.
Entschuldige Abby, dache Guilford. Das hab ich nicht gewollt. Entschuldige, Nick.
»Sie will sich mit dir treffen.«
»Dann weiß sie, dass ich lebe.«
»Seit gut zwei Jahren. Sie fand deine Notizen, sie waren unter den Sachen ihrer Mutter.«
»Dann ist Caroline… tot?«
»Fürchte ja. Lily ist eine starke Frau. Sie fand heraus, dass ihr Vater womöglich nicht bei der Finch-Expedition ums Leben kam, vielleicht noch am Leben ist und ihr diese verrückte kleine Geschichte über Geister, Mörder, eine verfallene Stadt… Guilford, der Punkt ist, sie hat dir geglaubt. Sie fing an, Fragen zu stellen. Und damit zog sie sich diese Typen auf den Hals.«
»Weil sie Fragen gestellt hat?«
»Weil sie diese Fragen zu öffentlich gestellt hat. Sie ist nicht bloß gescheit, sie ist Journalistin. Sie wollte deine Notizen veröffentlichen, sobald sie sicher sein konnte, dass sie nicht zusammengesponnen waren. Kam nach Jeffersonville und grub diese alten Geschichten aus.«
Abby zog sich ins Haus zurück. Nick war den Baseball leid, pfefferte den Handschuh ins Gras. Er flitzte in den Schatten der Ulme, blickte zu Tom und Guilford hinüber, neugierig und wohlwissend, dass er näher nicht herandurfte. Wenn Erwachsene etwas zu bereden hatten, taten sie immer gewichtig und benahmen sich komisch.
»Sie wollten ihr was tun?«