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Doch die Stadt war noch immer da, auf irgendeine vage, unstoffliche Weise.

Lily hielt sich wach, indem sie sich diese Stadt tief im darwinischen Hinterland ausmalte: den uralten, seelenlosen Nabel der Welt. Die Achse der Zeit. Den Ort, wo die Toten den Lebenden begegnen. Sie wünschte sich, sie könnte die Stadt sehen, obwohl ihr klar war, wie absurd der Wunsch war; selbst wenn sie die Stadt finden würde (und sie würde sie nicht finden; sie war nur eine Sterbliche), dann war es gefährlich dort, die Stadt war womöglich der gefährlichste Ort auf der ganzen Erde. Doch sie wurde von diesem mysteriösen Ort auf eine Weise angezogen, wie sie sich als Kind in bestimmte Namen auf der Landkarte verliebt hatte: Mount Kosciusko, das Große Artesische Becken, die Tasman-See. Der Reiz des Exotischen, und gottlob war das kleine Wollongong-Mädchen[43] so und nicht anders gewesen. Und da hocke ich nun, dachte Lily, mit dieser Flinte auf den Knien.

Sie würde die Stadt nie zu Gesicht bekommen. Aber Guilford würde sie wiedersehen. Das hatte Tom ihr gesagt. Guilford würde da sein, wenn die große Schlacht… es sei denn, seine zähe Liebe zur Welt hielt ihn zurück.

 »Guilford hängt an dieser Welt«, hatte Tom ihr erzählt. »Er liebt sie, als ob sie die Wirklichkeit war.«

 »Ist sie das nicht?«, hatte sie gefragt. »Selbst wenn die Welt nur aus Zahlen und Maschinen besteht… man kann sie doch trotzdem lieben?«

 »Sie schon, Mrs. Law«, hatte Tom eingeräumt. »Unsereins darf so nicht denken.«

Die Hindus sprechen von Erlösung, oder waren es die Buddhisten? Der Welt entsagen. Dem Begehren entsagen. Wie schrecklich, dache Lily. Schrecklich, so etwas von einem Menschen zu verlangen, zumal von Guilford Law, der die Welt nicht nur liebte, sondern auch wusste, wie zerbrechlich sie war.

Das alte Gewehr auf ihren Knien wog so schwer, als sei es eingeschlafen. Nichts regte sich da draußen bis auf die Sterne über der Bucht, ferne Sonnen, die durchs All glitten.

* * *

Abby kauerte unbewaffnet in einer Ecke, die vom Schein der Kerzen kaum erhellt wurde. Irgendwann nach Mitternacht kam Guilford und hockte sich neben sie. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Haut lag kühl unter der heißen Handfläche.

Sie sagte: »Hier werden wir nie mehr zu Ruhe kommen.«

 »Wenn es sein muss, Abby, gehen wir weg von hier. Weiter nach Norden, unter einem anderen Namen…«

 »Ach ja? Auch wenn wir woanders hingehen, wo uns keiner kennt — was dann? Willst du zusehen, wie ich alt werde? Zusehen, wie ich sterbe? Zusehen, wie Nicholas alt wird? Willst du auf das Wunder warten, das dich hierher verschlagen hat, damit es dich wieder fortnimmt?«

Er setzte sich erschrocken auf den Boden.

 »Du kannst mir nichts mehr vormachen. Du siehst immer noch aus als wärst du keine dreißig.«

Er schloss die Augen. Du stirbst nicht, hatte sein Geist ihm verraten, und er hatte erlebt, wie seine Wunden auf wundersame Weise verheilt waren, erlebt, wie die Grippe ihm nichts anhaben konnte, während seine kleine Tochter daran gestorben war. So oft hatte er sich dafür gehasst.

Doch die meiste Zeit hatte er sich verstellt. Und was Abby betraf, Abby, die älter wurde, Abby, die sterben würde…

Seine Verletzungen verheilten rasch, aber das hieß nicht, dass er nicht getötet werden konnte. Manche Wunden waren unwiderruflich, dessen war sich auch Tom bewusst. Eine Zukunft jenseits von Abby konnte er sich nicht vorstellen, da würde er sich lieber von einer Klippe stürzen oder sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund schieben. Jeder hatte ein Recht aufs Sterben. Keiner verdiente ein Jahrhundert voller Gram.

Abby schien seine Gedanken zu lesen. Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. »Du tust, was du tun musst, Guilford.«

 »Ich lasse nicht zu, dass sie euch etwas antun, Abby.«

 »Du tust, was du tun musst«, sagte sie noch mal.

Kapitel Einunddreißig

Der erste Schuss legte ein Wohnzimmerfenster in Scherben.

Nicholas, der gedöst hatte, saß kerzengerade und fing an zu heulen. Abby lief hin und drückte ihn aufs Sofa zurück. »Roll dich zusammen«, sagte sie. »Roll dich zusammen, Nick, und halt dir die Ohren zu!«

 »Bleib bei ihm«, schrie Guilford. Weitere Schüsse kamen durchs Fenster, peitschten wie Sturmböen in die Vorhänge, rissen faustgroße Löcher in die gegenüberliegende Wand.

 »Du bewachst dieses Zimmer«, sagte Tom. »Lily, mit nach oben.«

Er brauchte ein Fenster nach Osten und eine höhere Position. Es waren nur noch zwanzig Minuten bis zur Morgendämmerung. Im Osten musste es schon aufhellen.

* * *

Guilford hockte hinter der Haustür. Er feuerte zweimal blind durch den Briefschlitz in der Hoffnung, jemanden abzuschrecken.

Die Antwort war ein Kugelhagel, der das Moscheeholz über ihm zerfetzte. Guilford duckte sich unter dem Splitterregen.

Kugeln zerfetzten Holz, Putz, Polster, Vorhänge. Eine von Abbys Küchenkerzen erlosch. Der beißende, durchdringende Geruch von verkohltem Holz hing in der Luft.

 »Abby?«, rief er nach hinten. »Seid ihr okay?«

* * *

Das Ostzimmer gehörte Nick. Auf dem Wandbrett lauter Flugzeugmodelle aus Balsaholz, das Detektorradio und die Muschelsammlung.

Tom Compton riss die Vorhänge auf und trat die untere Glasscheibe nach draußen.

Das ganze Haus klingelte von berstendem Glas.

Der Grenzer duckte sich unter die Fensterbank, hob kurz den Kopf und duckte sich wieder.

 »Ich sehe vier Leute«, sagte er. »Zwei hinter den Autos und mindestens zwei bei der Ulme. Kannst du gut schießen, Lil?«

 »Ja.« Wozu bescheiden sein? Sie hatte noch nie mit einer Remington geschossen.

 »Schieß auf den Baum«, sagte er. »Ich kümmere mich um die Nahziele.«

Keine Zeit zum Nachdenken. Er zögerte nicht, packte einfach mit der Linken in den Rahmen, hob die Pistole und feuerte rasch und regelmäßig nach unten.

Der perlmuttfarbene Himmel spendete kaum Licht. Lily trat ans Fenster, blieb so gut es ging in Deckung und zielte auf die Ulme und dann auf den dunklen Schemen daneben. Sie drückte ab.

Das war kein Kaninchen. Doch sie tat so. Sie dachte an die Farm außerhalb von Wollongong, wo sie mit Colin Watson, als sie ihn noch ›Daddy‹ genannt hatte, auf Kaninchenjagd gegangen war. Damals war ihr das Gewehr größer und schwerer vorgekommen. Doch sie hatte es halten können. Er hatte ihr beigebracht, sich auf den Knall und den Rückstoß einzustellen.

Ihr war speiübel gewesen, wenn die Kaninchen verendeten und sich wie zerrissene Tüten über die trockene Erde wälzten. Aber die Kaninchen waren Schädlinge, eine Plage; sie hatte gelernt, ihr Mitleid zu unterdrücken.

Und hier war noch eine Plage. Sie zielte und drückte ab. Der Kolben schlug in die Schulter. Eine Patronenhülse klapperte über den Holzboden und kam unter Nicks Bett zur Ruhe.

War die Gestalt gestürzt? Vermutlich, es war einfach nicht hell genug…

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43

Wollongong ist eine Universitätsstadt in Australien.