Es lag auf der Hand, dass sich die Illusion nicht unbegrenzt aufrechterhalten ließ. Aber das musste auch nicht sein. Schon bald würde der Krieg eine neue, andere Wendung nehmen; dann war Tarnung überflüssig; in sechs Monaten, einem Jahr… tja, da würde alles anders sein. Soviel hatte man ihm versprochen.
Er beendete die Arbeit mit der Rasierklinge, säuberte sie, spülte die blutigen Rinnsale in den Abfluss, warf die blutigen Wattebäusche ins Klosett und zog ab. Er war mit seiner Arbeit zufrieden und wollte eben das Bad verlassen, als er etwas Seltsames bemerkte. Der Nagel des linken Zeigefingers fehlte. Die Stelle, wo er hätte sein sollen, war leer — eine feuchte, rosarote Delle.
Das war merkwürdig. Er erinnerte sich nicht, den Nagel verloren zu haben. Es hatte offenbar nicht wehgetan.
Er hielt beide Hände vor sich und inspizierte sie mit großem Unbehagen.
Rechts hatten sich zwei weitere Nägel gelockert, am Daumen und am kleinen Finger. Versuchsweise hob er den Daumennagel an. Er löste sich mit einem glibberigen, ekligen Schmatzer und fiel ins Waschbecken, wo er wie ein Käferflügel am feuchten Porzellan hing.
Tja, dachte er. Dasist neu.
Irgendeine Hautkrankheit? Das ging vorüber. Die Nägel würden nachwachsen. So funktionierte das immer. Er war unsterblich.
Doch die Götter mieden dieses Thema.
Kapitel Vierunddreißig
Der letzte Klient von Elias Vale war eine Frau aus der Karibik, die an Krebs starb.
Sie hieß Felicity und war auf Stockbeinen durch den Herbstregen zu Vales schäbiger Praxis in der Coaltown Street in New Dresden gekommen. Sie trug ein loses, geblümtes Kleid, das um ihren ausgemergelten Körper schlotterte. Die Tumoren — so seine Gottheit — hatten bereits Lunge und Darm besiedelt.
Er schloss die Fensterläden und sperrte den Blick auf nasse Straßen, dunkle Gesichter, Fabrikschlote und sauren Regen aus. Felicity, siebzig Jahre alt, seufzte erleichtert auf. Als sie zum ersten Mal in sein zerstörtes Gesicht geblickt hatte, war sie erschrocken gewesen. Und das war gut so, dachte Vale. Angst und Ehrfurcht wohnten dicht beisammen.
Felicity fragte mit einer matten Stimme, die sich aber den Klang von Spanish Town[46] bewahrt hatte: »Werde ich sterben?«
Sie brauchte kein Medium für diese Diagnose. Jeder aufrichtige Laie hätte auf Anhieb gewusst, dass sie starb. Ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, die Treppe zu Vales Praxis zu erklimmen. Natürlich war sie nicht hergekommen, um die Wahrheit zu hören.
Er setzte sich hinter den kleinen Holztisch, der mit dem kurzen Bein auf einem Buch mit astrologischen Tabellen stand. Die gelben Augen von Felicity glitzerten im wässrigen Licht. Vale reichte ihr die Hand. Seine Hand war weich gepolstert. Die ihre mager, eine blasse, pergamentene Handfläche. »Ihre Hand ist warm«, sagte er.
»Ihre ist kalt.«
»Warme Hände sind ein gutes Zeichen. Das ist das Leben, Felicity. Fühlen Sie nur. Das sind die Tage, die Sie durchlebt haben, das alles fließt durch Ihren Körper wie Elektrizität. Spanish Town, Kingston, das Schiff nach Darwinia… Ihr Mann, Ihre Kinder, sie alle sind dort, all Ihre Tage unter dieser Haut.«
»Wie lange habe ich noch?«, sagte sie unbeirrt.
Vales Gottheit hatte kein Interesse an dieser Frau. Sie war nur so viel wert, wie er für die Konsultation bekam. Sie existierte, um seine Barschaft aufzubessern, bevor er auf den Zug nach Armageddon sprang.
Mit oder ohne Gepäck.
Doch sie tat ihm Leid.
»Fühlen Sie diesen Fluss, Felicity? Diesen Strom von Blut? Strom von Eisen und Luft, der sich aus dem Innersten des Hochgebirges ins Delta Ihrer Finger und Zehen ergießt?«
Sie machte die Augen zu, zuckte schwach unter dem Druck auf ihrem Handgelenk. »Ja«, flüsterte sie.
»Das ist ein starker, alter Fluss, Felicity. Ein Fluss, so breit wie der Rhein.«
»Wo fließt er hin?«
»Ins Meer«, sagte Vale sanft. »Jeder Fluss fließt ins Meer.«
»Aber… noch nicht?«
»Nein, noch nicht. Dieser Fluss ist noch nicht ausgetrocknet.«
»Ich fühle mich so schlapp. Manchmal komme ich morgens gar nicht aus dem Bett.«
»Sie sind keine junge Frau mehr, Felicity. Denken Sie an die Kinder, die Sie großgezogen haben. Michael baut Brücken im Gebirge und Constance, deren Kinder schon fast erwachsen sind.«
»Und Carlotta«, murmelte Felicity, die traurigen Augen geschlossen.
»Und die kleine Carlotta, rund und schön wie der Tag, an dem sie starb. Sie wartet auf Sie, Felicity, aber sie ist nicht ungeduldig. Sie weiß, die Zeit ist noch nicht gekommen.«
»Wie lange noch?«
»Alle Zeit der Welt«, sagte Vale. Was nicht mehr viel war.
»Wie lange?«
Die Eindringlichkeit ihrer Stimme war ernüchternd. In diesem Sack aus Knochen und verseuchtem Gewebe steckte noch eine starke Frau.
»Zwei Jahre«, sagte er. »Vielleicht drei. Lange genug, um zu erleben, wie die Kleinen von Constance sich selbständig machen. Lange genug, um zu tun, was getan werden muss.«
Sie tat einen Seufzer, einen langen Seufzer der Erleichterung und Dankbarkeit. Ihr Atem roch wie die Metzgerei auf der Hoover Lane, in deren Fenster die ausgeweideten Ziegen wie Christbaumschmuck hingen. »Danke. Danke, Doktor.«
Sie würde diesen Monat nicht überleben.
Er faltete die Scheine in sein Portemonnaie und half ihr die Treppe hinunter.
Der Rangierbahnhof von New Dresden war ein weitläufiges, rußiges Ödland, das von grellen Industrielampen auf Stahlmasten beleuchtet wurde. Hinter den Langhäusern ragten die Wolkenkratzer der City wie nasse Grabsteine in den Himmel.
Vale trug dunkle Kleidung. Sein Sportbeutel enthielt ein paar Habseligkeiten, das Geld war um die Taille geschnallt und im Hosenbund steckte eine Pistole.
Er kroch durch eine kaputte Stelle im Maschendraht und richtete sich mit durchweichten Hosenknien auf. In dem dicht gepackten Boden aus Dreck, Asche und Kohle hatten sich bunt schillernde Regenpfützen gebildet. Fast eine Stunde lang hatte er frierend ausgeharrt, während ein Inlandzug auf das nächste Gleis geschoben wurde. Jetzt fuhr die Diesellok an, die Scheinwerfer fraßen sich durch die vom Regen schraffierte Nacht.
Los, dachte Vale. Lauf!
Er spürte, wie ihn die Gottheit drängte, doch es ging ihr nicht um diesen speziellen Zug. Die Geschichte der Menschheit schraubte sich zum Nullpunkt hinunter, schneller vielleicht, als die Götter erwartet hatten. Es gab Arbeit für ihn. Er war nicht von ungefähr an diesen trostlosen Ort gekommen.
Er schleuderte seinen Beutel durch die Aussparung eines offenen Güterwagens und warf sich hinterher. Er landete, rollte und renkte sich die Finger der linken Hand nach hinten. »Shit«, zischte er und setzte sich gegen die Wandlatten. Der Wagen war finster und stank nach modrigem Heu und nach Wollschlangen und Rindern, deren Tod besiegelt war. Die Lichter des Rangierbahnhofs blitzten vorbei.
Er war nicht allein. In der Ecke gegenüber kauerte ein Mann, er war mit jedem Lichtblitz deutlich zu sehen. Vales Hand näherte sich instinktiv der Pistole. Dann sah er, dass der Mann alt war, alt, heruntergekommen, hohläugig und besoffen von Aftershave oder Antiseptikum. Lästig vielleicht, aber ungefährlich.
»He, Fremder«, sagte der Alte.
»Lass mich in Frieden«, sagte Vale schroff.
Er spürte die Bürde der Jahre. Seit Washington hatte er viele anonyme Jahre verbracht, hatte sein Leben in Randbezirken von zu vielen Städten gefristet: New Orleans, Miami, Jeffersonville, New Pittsburgh, New Dresden. Er hatte ein paar Dinge gelernt, die den Göttern von Nutzen waren, und er hatte immer zu essen und ein Dach über dem Kopf gehabt, auch wenn er zeitweise arm gewesen war. Man hatte ihn vermutlich in Reserve gehalten, in Wartestellung für den finalen Aufruf, die Posaune des Jüngsten Gerichts, den Aufstieg der Götter über die Menschheit.