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Er hätte weiterlaufen sollen. Die andere Bestie hatte ihn erspäht und bewegte sich mit atemberaubendem Tempo auf den Brunnen zu. Die langen Beine pumpten wie die eines Leoparden.

Das Rauschen des Regens verschluckte jedes Laufgeräusch. Erst als sie stehenblieb, setzte sie laut vernehmlich eine Wolke stechender Lösungsmitteldämpfe frei, Abfallprodukte einer abwegigen Körperchemie. Ausdruckslose und fremdartige Augen nahmen ihn aufs Korn.

Er hob das Gewehr und feuerte zweimal kurz hintereinander.

Die eine Kugel schrammte den schimmernden Panzer, die andere mochte eine ungeschützte Rippe getroffen haben, jedenfalls torkelte die Kreatur einen Schritt zurück. Guilford drückte wieder ab, feuerte, bis das Magazin leer war und das Monster regungslos am Boden lag.

Tom!

Doch der Grenzer war unwiderruflich tot.

Guilford wandte sich wieder dem Brunnen zu.

Der Rand war zum Greifen nahe. Die Rampe, die ringsherum in die Tiefe führte, war intakt, aber übersät mit Schutt und Trümmern. Na und? Er hatte nicht vor, zu Fuß da hinunter zu gehen. Springen und sich der Gravitation überlassen: Das Kaninchenloch hatte keinen Boden, da unten war nur die Welt zu Ende. Er nahm Anlauf…

… und blieb stehen, als sich kaum zehn Schritt vor ihm ein Mensch aufrichtete.

Nein, kein Mensch, lediglich eine arme Seele, deren Vernichtung noch nicht abgeschlossen war. Vor allem das Gesicht sah aus, als sei es schon vor langer Zeit zerstört worden, wie vulkanische Platten wanderten die Knochen entlang der Bruchlinien.

Diese Kreatur hielt ein Gewehr und wollte es in Anschlag bringen, das Schütteln der Arme machte ihr zu schaffen.

Guilford nahm ein volles Magazin vom Gürtel.

 »Du möchtest mich nicht umbringen«, sagte das Monstrum.

Die Worte schnitten durch das Rauschen des Regens und das ferne Krachen der Artillerie.

Hör nicht hin, sagte der göttliche Guilford.

 »Ich habe jemanden mitgebracht, Guilford. Du kennst ihn.«

Guilford warf das leere Magazin aus. »Und wer soll das sein?« Er sah zu, wie das Monstrum mit dem Gewehr kämpfte. Schwerer Fall von Schüttelfrost. Reden, reden, reden.

Nein, beharrte der Wachsoldat.

Das Monstrum schloss die Augen und sagte: »Dad?«

Guilford erstarrte.

Nein.

 »Bist du das, Dad? Ich kann dich nicht sehen.«

Guilford rührte sich nicht, obwohl der Wachsoldat ihn drängte.

 »Dad, ich bin es! Nick!«

Nein, das ist nicht Nick, Nick ist…

 »Nick?«

 »Dad, schieß nicht! Ich bin hier drin! Ich will nicht sterben, nicht schon wieder!«

Das Monstrum kämpfte immer noch mit dem Gewehr. Guilford sah zu und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er dachte an die nassen, schrecklichen Rosen aus Nicks Blut.

* * *

Der Wachsoldat war plötzlich neben ihm, durchsichtig wie Nebel. Die Zeit bremste. Sein Herz hämmerte nur noch halb so schnell, dann zwei träge Paukenschläge.

Das Monstrum fuchtelte zähflüssig mit dem Gewehr.

Der Wachsoldat sagte: »Hör zu. Schnell jetzt. Das ist nicht Nick.«

 »Was passiert mit den Toten? Bekommen die Dämonen sie?«

 »Nicht immer. Und das ist nicht Nick.«

 »Wer weiß?«

 »Guilford. Glaubst du, ich würde zulassen, dass sie ihn bekommen?«

 »Haben sie Nick?«

 »Nein. Haben sie nicht. Nick ist bei mir, Guilford. Er ist bei uns.«

Der Wachsoldat streckte die Hände aus wie jemand, der seine Unschuld beteuert, und einen süßen und schrecklichen Moment lang war da Nick, die Augen zu, schlafend, zwölf Jahre alt und ganz friedlich.

 »Glaub mir«, sagte der Wachsoldat. »Diese Leben sind aufgehoben.«

Guilford sagte: »Ich bin so müde… Nick?«

Doch Nick war nicht mehr da.

 »Schieß endlich!«, sagte der Wachsoldat.

* * *

Er schoss.

Das Ungeheuer schoss.

Guilford spürte die Kugeln eindringen. Der Schmerz war diesmal brutal. Na und? Er war am Ziel. Er feuerte und feuerte, bis der Mensch mit dem zerstörten Gesicht regungslos am Boden lag.

Guilford schleppte sich mit letzter Kraft an den Rand des Brunnens.

Er schloss die Augen und fiel. Der Schmerz verlor sich im Nebel. Er war frei wie ein Regentropfen. Hey, Nick, schau her. Und er fühlte Nicks schläfrige Gegenwart. Der Wachsoldat hatte nicht geflunkert. Nick war eingehüllt in Zeitlosigkeit, schlief bis ans Ende der Ontosphäre, tauchte durch die leuchtenden Wasser des Archivs, die tiefer waren als alle Meere und warm wie die Sommerluft.

Er blinzelte und sah, wie der Gott aus ihm herausbarst. Das leuchtende Etwas war einst Guilford Law gewesen, umgekommen auf einem Schlachtfeld in Frankreich, gehätschelt vom Bewusstsein, mächtig wie die Götter und selbst ein Gott, untrennbar mit ihnen verbunden, ein Wesen, das Guilford auch nicht annähernd begreifen würde, ganz und gar aus gleißendem Licht und Farbe, ein Racheengel, der die Dämonen bannte, die ihre Enttäuschung hinausheulten über die fernen, schwindenden Ränder der Welt.

Zwischenspiel

Sie standen eine Zeit lang auf der Anhöhe über der zerstörten Dämonenstadt. Der Tag war schattenlos hell und der Himmel voller Sterne.

 »Was nun?«, fragte Guilford.

 »Wir warten«, sagte der Wachsoldat mit unendlicher Geduld.

Guilford sah die Männer hangaufwärts klettern. Die Stadt lag still, aufs Neue verwaist. Guilford erkannte die Alten Männer, unter ihnen Tom und Erasmus, sie waren wohlauf und lächelten. Es war verblüffend, wie klar und deutlich er die fernen Gesichter sah.

 »Warten worauf?«

 »Auf das Ende aller Schlachten«, sagte der Wachsoldat.

Guilford schüttelte entschieden den Kopf. »Neinnein.«

 »Nein?«

 »Nein. Ohne mich. Ich will haben, was ich nie haben durfte.« Er sah den Wachsoldaten fest an. »Ich will ein Leben.«

 »So viel du willst — wenn alles vorbei ist.«

 »Ich meine ein Menschenleben. Ich will herumlaufen wie ein richtiger Mensch und alt werden, bevor ich sterbe. Einfach… ein Menschenleben.«

Der Wachsoldat schwieg, er schwieg ungewöhnlich lange.

Ich habe ihn sprachlos gemacht, dachte Guilford. Einen Gott.

Schließlich sagte der Wachsoldat: »Ich glaube, das liegt in meiner Macht. Bist du auch sicher, dass du das willst?«

 »Ich wollte nie etwas anderes.«

Der uralte Guilford nickte. Er hatte Verständnis — zumindest der älteste Teil von ihm. »Und das Leid…«

 »Ja«, sagte Guilford kategorisch. »Auch das Leid.«

Epilog

Spätsommer, 1999

Karen kam von ihrem Morgenspaziergang zurück und erzählte Guilford, dass ein riesiges Seerad angespült worden sei. Gleich nach dem Lunch (Sandwichs auf der Veranda, auch wenn Guilford nicht mehr als einen Bissen hinunterbekam) ging er los, um sich das maritime Wunder anzusehen.

Er nahm sich Zeit, vergeudete keine Kraft. Er folgte dem Pfad, der vom Haus zum Strand führte, durch dichten Farn und unter Glockenbäumen, aus denen der Sommernektar tropfte. Die Beine taten ihm schon weh, da war er kaum losgegangen, und als er das Meer sah, war er außer Atem. Die Oro-Delta-Küste hatte mit das mildeste Klima von Darwinia, doch der Sommer war meist lähmend feucht und immer heiß. Wolken stapelten sich über dem windstillen Mittelmeer und erinnerten an pompöse Marmorpaläste oder die Kathedralen des alten Europas.