F. C. Weiskopf
Das Volk muß um das Recht kämpfen wie um die Mauern der Stadt
Heraklit
Wer das Verbrechen pardoniert, wird des Verbrechens Komplice.
Voltaire
Ein Mensch — wie stolz das klingt!
Gorki
Das Anekdotenbuch
Souvenir
Der Maler Picasso wurde nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris zu seiner eigenen und zur Überraschung seiner Freunde von den Eroberern völlig unbehelligt gelassen, wohl weil das Reichspropagandaministerium aus dieser Tatsache im Ausland Kapital zu schlagen hoffte.
Offiziere und Soldaten der Wehrmacht waren in der Folgezeit häufige Besucher von Picassos Atelier. Ein jeder dieser ungebetenen Gäste wurde stumm empfangen, stumm herumgeführt und erhielt beim Abschied eine Reproduktion des berühmten Gemäldes, das die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Naziflieger darstellt. Erst dann sprach Picasso ein Wort und immer nur das eine: "Souvenir!"
Eines Tages stellte sich bei ihm ein Beamter der Geheimen Staatspolizei ein, wies eine solche Reproduktion vor und fragte: "Haben Sie das gemacht?"
"Nein", entgegnete, indem er den Kopf schüttelte, der Meister, "das haben Sie gemacht."
Ob der Agent diese Antwort nicht oder nur allzu gut verstand, ob er von ihrer Kühnheit überwältigt wurde oder sie als Äußerung eines Wahnsinnigen auffaßte, bleibe dahingestellt; er ging, und Picasso hörte nie wieder von ihm. Dieses hat sich im Jahre 1944 zugetragen, und so etwas ist, wie es in Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" heißt, des Lesens zweimal wert.
Witz der Weltgeschichte
Kammerdiener: Seine Durchlaucht der Herzog empfehlen sich Mylady zu Gnaden und schicken Ihnen diese Brillanten zur Hochzeit! Sie kommen soeben erst aus Venedig.
Lady (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück): Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese Steine?
Kammerdiener (mit finsterm Gesicht): Sie kosten ihn keinen Heller!
Lady: Was! Bist du rasend! Nichts! Und (indem sie einen Schritt von ihm wegtritt) du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest. - Nichts kosten diese unermeßlich kostbaren Steine? Kammerdiener: Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort — die zahlen alles.
Die Weltgeschichte hat in ihrem Repertoire nicht nur Tragödien und Farcen, sondern auch Witze.
Ein großer Teil der hessischen Kronjuwelen wurde, wie vielleicht bekannt, von den Herzögen aus den Erträgnissen ihrer Soldatenverkäufe an den britischen Hof angeschafft. Mit den so erworbenen Truppen führte — und verlor König Georg III. von England seinen Feldzug gegen die aufständischen nordamerikanischen Kolonien, die sich zur Republik der Vereinigten Staaten zusammengeschlossen hatten.
Während die am Leben gebliebenen Hessen nach dem Kriege wie unbrauchbare Kommissionsware an den Lieferanten zurückgeschickt wurden, trugen die als Tote in Amerika Gebliebenen ihrem landesväterlichen Verschacherer noch einen zweiten Profit in Form einer besonderen Prämie ein. Die wertvollsten unter den berühmten Perlen und Steinen des hessischen Fürstenschatzes sollen mit Hilfe dieser Totenprämien erstanden worden sein… und gerade sie wurden, als nach der Niederlage des Dritten Reiches die amerikanische Armee das Land Hessen besetzte, von zwei Offizieren der Besatzungstruppe entwendet und nach Amerika geschmuggelt: dorthin, wo die Gräber liegen, aus denen das Geld zu ihrem Ankauf gekommen ist.
Das Diebespaar wurde übrigens schnell gefaßt und die Beute unter vielen Entschuldigungen denen zurückerstattet, die als Nachkommen der herzoglichen Menschenhändler und Leichenfledderer auf einen älteren und prächtigeren, wenn auch nicht respektableren Besitztitel pochen konnten.
Der kleine Unterschied
Während seiner sogenannten Friedensmission in China, die nichts anderes bezweckte, als das wankende Regime des von den Amerikanern gekauften Diktators Tschiang Kaischek zu stützen und die Befreiungsarmee um die Frucht ihrer Siege zu prellen, bemerkte General Marshall einmal zu seinem Verhandlungspartner Tschou En-lai: "Ich verstehe Ihr Mißtrauen nicht, Herr Delegierter. Schließlich wollen wir beide nur dasselbe, und wie Sie habe auch ich nur das Bestreben, dem chinesischen Volk zu dienen."
"Sie vergessen bloß den kleinen Unterschied, General", gab Tschou En-lai zurück. "Sie dienen ihm auf Ihre und ich diene ihm auf seine Weise."
Judas
Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches die Darsteller der Passionsspiele von Oberammergau bei den Besatzungsbehörden um eine Theaterlizenz einkamen, mußten sie vor einer Prüfungskommission erscheinen, die das Verhalten jedes einzelnen Schauspielers während der Nazizeit zu untersuchen hatte. Es erwies sich nun, daß fast alle von ihnen, auch der Herr, auch Maria, auch Petrus und Paulus der Partei Hitlers beigetreten waren, als dies noch Vorteile und Ehrungen mit sich gebracht hatte. Nur Judas, er, dessen Name gemeinhin mit Verrat gleichgesetzt wird, war nicht zum Verräter geworden. Nur er hatte sich sein menschliches Herz, seine Würde und Ehre bewahrt.
Der Renegat und seine Bücher
Egon Erwin Kisch wurde einmal von einer wißbegierigen Leserin um sein Urteil über den Schriftsteller R. gebeten, der zum Renegaten geworden war und dabei, wie es in solchen Fällen geradezu zwangsläufig zu geschehen pflegt, zugleich mit dem Charakter auch das, was er an Talent besessen, verloren hatte.
"Mein Urteil über wen?" fragte der rasende Reporter, der nur mit halbem Ohr zugehört haben mochte.
"Über den Romancier R.", antwortete die Wißbegierige und hob an, die Titel der von dem Renegaten geschriebenen Romane aufzuzählen.
"Genug!" unterbrach Kisch sie. "Ich weiß schon, um wen es geht. Das ist doch der Mann, der sich, im Gegensatz zu seinen Büchern, so leicht verkauft."
Die Liquidierung der Stechmücken
Einer meiner Freunde, der viel in der Welt herumreist, bekam von dem Wirt der Kopenhagener Flughafenschenke folgendes Histörchen zu hören, das hier so wiedergegeben sei, wie es von dem Wirt meinem Freunde und von diesem mir erzählt wurde. Kommt da eines Tages mit dem Clipper, der von Stockholm nach dem Fernen Osten fliegt und hier eine Stunde Aufenthalt hat, ein dicker Chinese an und verlangt an meiner Theke eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Eine Milch mit Coca-Cola und Rum?" erkundige ich mich sicherheitshalber, da mir eine solche Mischung bisher nie untergekommen. "Ja", spricht der Dicke, "und messen Sie den Rum nicht zu knapp, ich bin diese Medizin gewohnt und werde sie wohl nicht sobald wieder in den Magen kriegen, denn ich fahre in meine Heimat, und dort hat man andere Geschmäcker und andere Getränke." — "Soso, nach China geht die Reise", sage ich, um das Gespräch in Gang zu halten, denn mir scheint, aus dem Gast ist noch eine Bestellung herauszuholen, "wie sieht es denn jetzt dortzulande aus?" — "Das weiß ich nicht", antwortet er, "ich bin zwanzig Jahre nicht mehr daheim gewesen", und bestellt richtig noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Und wo haben Sie, mit Verlaub, diese zwanzig Jahre verbracht?" frage ich. "In Amerika", gibt er zurück, "ich habe eine Wäscherei mit drei Filialen in Philadelphia gehabt, aber die bin ich losgeworden." — "Ist's möglich?" entfährt es mir, "man hat Sie um Ihr Unternehmen…" — "Nein, nein", unterbricht er mich, "ich hab es verkauft. Ohne Gewinn, aber auch nicht mit Verlust. An einen Landsmann." — "Verkauft?" wundere ich mich. "Wollen Sie am Ende nicht mehr nach Amerika zurück?" — "In der Tat", versetzt er, "ich will in China bleiben", und bestellt noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Da erwartet man Sie wohl schon?" vermute ich. "I wo denn", entgegnet er, "und ich weiß überhaupt noch nicht, was ich dort tun werde." — "Das verstehe, wer will", sage ich, "Sie entschuldigen schon, doch was zum Teufel hat Sie zu einem solchen Entschluß bewogen?" — "Das will ich Ihnen erklären", meint er, "aber vorher bringen Sie mir noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum." Ich serviere ihm das Verlangte, und er, indem er seine Medizin hinter die Binde gießt und sich danach die Lippen leckt: "Es gibt natürlich eine ganze Menge von Gründen, aber wenn ich mir's überlege, so hat einer, der Ihnen vielleicht ganz komisch vorkommen mag, den Ausschlag gegeben." — "Und der wäre?" werfe ich ein. "Ein Brief, worin es heißt, daß in Schanghai keine Stechmücken mehr sind." — "Was?" stottere ich und glaube, nicht recht gehört zu haben, "Stechmücken?" — "Jawohl", bekräftigt er, "es geht um die Stechmücken. Vielmehr darum, daß in Schanghai keine mehr sind. Man hat sie liquidiert. Li-quidiert", wiederholt er und klopft bei jeder Silbe mit dem Glas auf die Theke, "li-qui-diert!" — "Wie?" rufe ich, "und das sollte Sie bestimmt haben…?" — "Gerade das!" erwidert er, "denn sehen Sie, wenn Mao Tse-tung und die Seinen Zeit finden, sich um so etwas zu kümmern, und wenn es ihnen gelingt, eine Plage abzuschaffen, von der wir immer angenommen haben, daß sie so elementar ist wie Regen oder Blitzschlag, — was werden sie aus diesem Land China machen! Und dann", spricht er mit einem Lächeln, wie es nur diese dicken Chinesen haben, verschmitzt und auch weise, "dann habe ich mir noch gesagt: Hier in Amerika züchtet man Stechmücken und infiziert sie mit Pest oder Cholera, um sie auf Menschen loszulassen, und drüben befreit man die Menschen von den Mücken… wie kann einem da die Wahl zwischen hüben und drüben schwerfallen?" Und bevor ich mich noch auf eine Antwort besinnen kann, hat er einen Fünfdollarschein neben die leeren Gläser gelegt und ist auch schon draußen beim Clipper. So einen Kerl habe ich, auf Ehre und Gewissen, zeit meines Lebens nicht gesehen.