"Wie?" fragten einige der Mitglieder der Gesellschaft verwundert und glaubten nicht richtig gehört zu haben, "der einzige Punkt? Und der Tscheche, ohne es zu wissen, geradewegs darauf zu? Durch die ganze Sahara?" Die Gesellschaft hatte Mühe, ein Gelächter zu unterdrücken.
"Das war die erste Geschichte", sagte der Emigrant, indem er sich seine ausgegangene Pfeife neu stopfte, und schwieg.
"Beim Himmel!" platzte ein Zahnarzt (ohne den man sich eine New-Yorker Gesellschaft nur schwer vorstellen kann) los, "da haben Sie recht; diese Geschichte ist von der Art, daß man sie nicht für glaubhaft hält."
"Die zweite Geschichte", hob der Emigrant an, "spielt in ihrem Schlußteil, mit dem ich anfangen möchte, gleichfalls in Nordafrika. Als die Verbündeten zum entscheidenden Sturm auf Tunis und Bizerta, wohin sich die Reste der deutsch-italienischen Orientarmee zurückgezogen hatten, ansetzten, erschien bei einem Stoßtrupp der im Zentrum vorgehenden Amerikaner ein Mann, der sich als ein den Nazis entlaufener russischer Kriegsgefangener zu erkennen gab. Von dem kommandierenden Offizier nach hinten, zum nächsten Stabsquartier gewiesen, bat der Russe eindringlich, bei dem Stoßtrupp bleiben und sich an der im Gange befindlichen Aktion beteiligen zu dürfen. Schon wollte der Kommandeur die Bitte abschlagen, als der Trupp von mehreren, jählings aus einem Versteck hervorbrechenden Panzern angegriffen wurde. Bei der Abwehr des Überfalls und in den späteren Verfolgungskämpfen zeichnete sich der Russe über die Maßen aus. Ohne Schußwaffe, nur mit einem Dolchmesser in der Faust, stürzte er sich auf die Feinde, wobei er bald den Stahl, bald auch nur seine Fäuste in einer solchen Weise gebrauchte, daß seine eigenen, neugewonnenen Kameraden neben der Bewunderung auch Schauder empfanden. Doch machte diese Regung einem zornigen Mitgefühl Platz, als ihnen der Russe während einer Kampfpause den Grund für seine fürchterliche Tapferkeit enthüllte. Er war, nach dem deutschen Einfall in die Ukraine, als Zivilgefangener aus seinem Dorf weggeführt und ins Ruhrgebiet verschleppt worden, wo er sich alsbald in eine der Totengräberkolonnen eingereiht fand, denen es oblag, die von den Erschießungskommandos der SS wegen Sabotage oder auch nur zur Abschreckung massenhaft niedergemähten Geiseln aus den Reihen der ausländischen Arbeiter zu verscharren. Durch diese entsetzliche Arbeit an den Rand der Raserei gebracht, mußte er es auch noch erleben, daß ihm eines Tages aus dem Leichenhaufen, für den seine Kolonne die Grube aushob, ein bekanntes Gesicht entgegenstarrte — das seiner Schwester, die er bisher zu Hause und wegen ihrer großen Jugend vor dem Verschicktwerden geschützt geglaubt hatte…"
"Und diese Begegnung", fragte die Gesellschaft, "hat sich tatsächlich zugetragen?"
"Nicht nur das", versetzte der Emigrant, "der Russe entdeckte später unter den Toten, die er zu begraben hatte, auch noch einen Vetter."
"Unglaublich! Unerhört!" rief die Gesellschaft.
Der Zahnarzt meinte, daß der Erzähler die Geschichten die seinen Satz belegen sollten, gut zu wählen wisse.
"Die dritte Begebenheit", fuhr der Emigrant fort, "trug sich in Bosnien zu, bei der Einnahme von Banjaluka durch die jugoslawischen Partisanen. Ein deutscher Wachtmeister, der beim Kommando der Geheimen Feldpolizei Dienst getan hatte, warf, als er sah, daß die in Panik geratene Besatzung die Waffen niederlegte, seinen Uniformrock weg, um sich vor dem Strick zu retten, der, wie allgemein bekannt, jedem "Schwarzkragen" gewiß war. Dann ließ er sich gefangennehmen. Beim Verhör im Stab der Partisanen gab er sich für einen eben erst aus dem Reich nach Jugoslawien gesandten Reservisten aus, der nur auf die erstbeste Gelegenheit, Schluß zu machen und überzugehen, gewartet habe. Schon glaubte er das Verhör glücklich überstanden zu haben, als ein Partisanenoffizier, der scheinbar unbeteiligt beiseitegestanden, sich plötzlich mit furchtbar verzerrtem Gesicht an ihn wandte: "Und was hast du in Novisad gemacht?" Der Wachtmeister, indem er sich vergeblich bemühte, dem Blick des Offiziers standzuhalten, stotterte: "In… wo? Das muß ein Irrtum sein" Aber der Offizier, während er seine Pistole zog, wies statt jeder Antwort auf einen Ring an der Hand des Wachtmeisters; es war derselbe Ring, den er am Tage des Kriegsausbruchs seiner Braut, einem Mädchen von Novisad, geschenkt hatte, das — wie ihm unterdessen zu Ohren gekommen — zu den Opfern der von den Nazis gleich nach der Besetzung des Ortes veranstalteten "Nacht der langen Messer" gehörte."
"Himmel, Tod und Teufel!" stieß der Zahnarzt hervor. "Dixi!" schloß der Emigrant, nahm seinen Hut und ging weg.
"Herr X.!" riefen die anderen ihm nach, "Herr X.!" Sie wollten die Quelle dieser abenteuerlichen Geschichte wissen.
"Lassen Sie ihn", meinte ein Mitglied der Gesellschaft, "Kleist, in der schon genannten Anekdote, erachtet es noch für notwendig, seinen Hauptmann in Schutz zu nehmen, indem er anführt, daß es Tatsachen gibt, von denen der Dichter im Hinblick auf ihre offenbare Unglaubhaftigkeit keinen Gebrauch machen kann, indes der Geschichtsschreiber sie wegen der Unverwerflichkeit der Quellen aufzunehmen hat — wohingegen wir heutzutage beinahe versucht sind, einen Vorfall für ausgezeichnet und ungewöhnlich zu halten, wenn er der Abenteuerlichkeit und Unwahrscheinlichkeit ermangelt."