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Den Zweihundert, die sich nach mehrstündigem Verhör noch auf den Beinen zu halten vermochten, wurde befohlen, im Hof vor der versammelten SA Aufstellung zu nehmen und die Internationale zu singen.

Was mit diesem Befehl bezweckt war: eine bloße Verhöhnung der Verhafteten oder eine Aufreizung der von den Mühen des Verhörs etwas ermüdeten SA-Männer zur Unterdrückung der "Revolte", ist unbekannt. Der Befehl wurde nicht befolgt. Hätte man von den Arbeitern verlangt, sie sollten das Vaterunser beten oder den Arm zum Hitlergruß heben oder was sonst bei solchen Gelegenheiten in SA-Kasernen und Konzentrationslagern von geprügelten Gefangenen gefordert wurde, sie hätten nach allem, was vorangegangen war, vielleicht gehorcht. Aber sie weigerten sich, das Lied, das sie in hundert Versammlungen, bei tausend Demonstrationen, an all ihren Feiertagen gesungen hatten, hier auf Befehl der SA zu singen.

Als die Braunen darauf mit dem Gewehrkolben antworteten, faßten die Gefangenen sich an den Händen. Einige Kolbenhiebe lang konnten sie sich so, gleichsam ein einziger Körper, noch aufrecht erhalten, dann stürzten sie alle zu Boden Bald waren sie nur noch ein wirres Knäuel zerschlagener Leiber.

Aus diesem Knäuel stieg, als die SA schon, in Gruppen rechts schwenkend, zur Schnapsausgabe abmarschierte, eine einzelne heisere Stimme empor und sang nun das Lied, das zu singen die Gefangenen sich nicht hatten zwingen lassen.

Die allgemeine Überraschung und eine Zähigkeit, die man dem zerbrochenen Körper des Sängers, eines schmächtigen Burschen, nicht zugemutet hätte, ließen es geschehen, daß zwei Strophen der Internationale verklangen, bevor die Stimme zum Schweigen gebracht wurde.

Zuviel Hirn

Die "New York Times", der man in solchen Dingen für gewöhnlich Glauben schenken darf, berichtete Anno 1947 über einen in mancher Hinsicht merkwürdigen Vortrag des Londoner Gehirnchirurgen Sir Allen Dickson Wright vor seinen Kollegen von der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Künste. Sir Allen, ein Virtuose in seinem Fach, erläuterte die von ihm zur Heilung schwerer Melancholie erfolgreich angewandte Leukotomie — eine Operation, die darin besteht, daß die Schädeldecke des Kranken geöffnet und etwa ein Fünftel des Hirns entfernt wird. Bei den zur Veranschaulichung seiner Methode angeführten Beispielen handelte es sich fast ausschließlich um Bankiers, Börsenmakler und Industrielle, die an einer gemeinhin als Erschlaffung des Geschäftsgeistes (tired businessman's feeling) bekannten schwermütigen Apathie litten. Insbesondere hob Doktor Wright den Fall eines Fabrikdirektors aus Sheffield hervor, der von dem besagten Leiden in einem solchen Grade befallen wurde, daß er jegliche Arbeit aufgeben und sich zuletzt in ein Sanatorium für Trübsinnige zurückziehen mußte. Nach glücklich durchgeführter Leukotomie konnte der Geheilte nicht nur seinen Beruf wiederaufnehmen, er zeichnete sich sogar vor den übrigen Direktoren durch die Fähigkeit, schnelle Entschlüsse zu fassen und die Verantwortung für gewagte Geschäfte zu übernehmen, dermaßen aus, daß er alsbald in die Londoner Zentrale des Unternehmens berufen und dort nicht lange danach zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates gemacht wurde.

Nach den Worten Sir Allens soll der Sheffielder Fabrikdirektor nur einer von Tausenden seinesgleichen sein, deren vorzeitiges Versagen auf ein Zuviel an Hirn zurückzuführen ist, welchem Übel nunmehr durch Leukotomie schnell und ohne übermäßige Gefahr abgeholfen werden kann.

Auf Einwände mehrerer Akademiker entgegnete Doktor Wright, daß dieser Eingriff keineswegs eine revolutionäre Neuerung, sondern nur die systematische Vervollkommnung einer bereits von den Alten geübten chirurgischen Praxis darstelle Wie man an Hand von Skelettfunden in Mexiko und Peru nachweisen könne, sei die Kunst der Schädeltrepanation schon den Azteken und Inkas bekannt gewesen. Der Anblick von Wahnsinnigen, die ihre Stirne gegen Felsen oder Bäume stießen, habe zweifellos die Medizinmänner der Vorzeit auf den Gedanken gebracht, daß in den Köpfen der Kranken böse Geister wohnten, denen man durch Öffnung der Schädeldecke einen Ausgang schaffen müsse. Im Grunde — schloß Sir Allen mit einer Ironie, deren wahrer Natur es keinerlei Abbruch tut, daß sie weder ihm noch seinen Zuhörern, noch auch den Redakteuren der "New York Times" bewußt ward — könne man demnach die leukotomische Heilung erschlafften Unternehmergeistes durch Wegschneiden des überschüssigen Gehirns als eine bloße Rückkehr zur Theorie unserer Vorfahren in grauen Zeiten auffassen.

Seltenes Beispiel von Mutterliebe

Es war in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 — der Krieg ging zu Ende, die siegreichen russischen Truppen standen an der Grenze Thüringens, die Amerikaner an der Elbe da fuhr vor dem Gemeindeamt des Dorfes Ebenrode, in dem sich ein vorgeschobenes Kosakenkommando befand, die auf einem abseits gelegenen Gehöft wohnende Bäuerin Katharina Kleinmetz mit einem schwer beladenen Ochsenkarren vor und erklärte dem Wachtposten, sie habe für die Herren Russen etwas mitgebracht. Dieses Etwas stellte sich als ein Klafter Holz, eine Gans, ein Sack Kartoffeln und der gefesselte jüngste Sohn der Kleinmetz, Hans Georg, Unterscharführer in einem Regiment der Waffen-SS, heraus.

Befragt, was das bedeuten solle, erzählte die weit über ihre Jahre hinaus gealterte Frau, sie sei in der vergangenen Nacht, kaum eingeschlummert, durch verstohlenes Klopfen am Fenster geweckt worden. Zu ihrem freudigen Schrecken habe sie in dem Einlaßbegehrenden ihren Jüngsten erkannt, den sie, da seit vielen Wochen von ihm keine Nachricht mehr gekommen, schon aufgegeben hatte wie seinen Vater und seine drei älteren Brüder, die sämtlich den nichtsnutzigen Tod für Führer und Reich gestorben waren. Hans Georg, der wie ein Wolf über das Brot und die Milch hergefallen sei, die sie ihm mit zitternden Händen als erstes vorgesetzt, habe halb gesättigt wieder aufbrechen wollen, um zu seinem abgesprengten Kampftrupp zu stoßen, der versuchen wollte, die feindlichen Linien zu durchbrechen und den Anschluß an die zurückflutenden deutschen Divisionen zu finden. Sobald ihr klargeworden, daß sich der Junge in seiner Verblendung allem Zureden, allen Gründen der Vernunft und des Gefühls verschließet! würde, sei sie nur noch in ihn gedrungen, er solle wenigstens sein völlig zerrissenes Schuhwerk gegen die väterlichen Schaftstiefel, die sie aus einem Versteck im Stall holen wolle, umtauschen.

Das Weitere könnten sich die Herren Russen wohl denken, schloß die Kleinmetz, indem sie auf den Stirnverband Hans Georgs wies und durch eine Geste andeutete, wie sie ihn durch einen Hieb mit dem Axtstiel betäubt hatte.

Das hätte doch auch schlecht ausgehen können?" fragte durch einen Dolmetscher der sie verhörende Offizier.

"Ja, gewiß", gab die Kleinmetz zu, "aber was blieb mir anderes übrig? Sehen Sie, ich sagte mir: Wenn es nach seinem heilen Kopf geht, zieht er davon, und ich kriege ihn mein Lebtag nicht wieder zu Gesicht, da ist es schon besser, ich weiß ihn mit verbeultem Schädel bei Ihnen in Gewahrsam."

Das Gespenst im Opernhaus

Nach der Befreiung Wiens von den Nazis ging unter den russischen Truppen, die als erste in die Stadt eingedrungen waren, folgende Geschichte um, die ihresgleichen wohl nicht so leicht findet.

Bei einer der großen Judenverfolgungen im Jahre 1944 gelang es dem vierzehnjährigen Hans Bustin, den SS-Leuten, die ihn mit seiner Familie in einen für das Vernichtungslager Auschwitz bestimmten Viehwagen verfrachten wollten, im letzten Augenblick zu entwischen. Über ein Jahr lang trieb sich der Junge in Wien herum, immer in Gefahr, von einer Gestapostreife aufgegriffen zu werden. Während einiger Wochen fand er bei einem Arzt, der seine Eltern gekannt hatte, Unterschlupf. Nur durch einen glücklichen Zufall entging er der Verhaftung, als sein Versteck den Nazis verraten wurde. Auch das von einer warmherzigen Blumenfrau gewährte Asyl im Keller ihres Hauses erwies sich als unsicher. Um wenigstens während weniger Stunden ein Dach über dem Kopf zu haben, schlich er sich eines Abends in die Oper ein, wo er im Keller zwischen Gas- und Wasserrohren und allerhand Theatergerümpel einen ruhigen Schlafplatz zu finden hoffte. Sein Unglück wollte es, daß gerade an diesem Abend einer der Inspizienten auf den Gedanken kam, den Keller nach ausrangierten, aber noch brauchbaren Möbelstücken zu durchsuchen. Er näherte sich dem Winkel, in dem Hans Bustin lag, und hätte den Eindringling zweifellos entdeckt und — strammer Nationalsozialist, der er war — an die Gestapo ausgeliefert, wäre der Junge nicht in seiner Verzweiflung auf den Ausweg verfallen, sich ein zerfetztes Bajazzokostüm überzuwerfen und mit dumpfem Gestöhn an dem entsetzten Inspizienten vorbeizuhuschen. Dieser Vorfall gab Anlaß zu einem Gerücht unter den Theaterleuten, daß es im Keller des Opernhauses spuke; und dieses Gerücht hinwiederum sicherte dem Flüchtling ein Obdach, das er benützen konnte, bis ihm und anderen "Untergetauchten" die Stunde der Befreiung schlug.