Es kostete Mühe, Geduld und Geld über alle Maßen, das Unterfangen in die Wege zu leiten, und mehr als einmal waren die Mitglieder des mit seiner Durchführung betrauten Komitees nahe daran, vor den unzähligen Transportschwierigkeiten, bürokratischen Tücken, Paßhindernissen und anderen Hürden mehr zu kapitulieren. Schließlich gelang es jedoch, auch die letzten Widrigkeiten zu überwinden, und an einem Herbsttag des Jahres 1946 sahen die nach dem Hafen von Veracruz gerufenen Pflegeeltern ihre künftigen Adoptivkinder die Fallreeptreppe eines brasilianischen Frachtdampfers heruntersteigen und auf sich zukommen. Jeder der kleinen Ankömmlinge hatte ein Medaillon aus Pappe mit seinen — zumeist sehr dürftigen — Personaldaten umgehängt. Zwei der Medaillons waren blank. Über ihre Träger, einen ungefähr sechsjährigen Knaben und ein etwas jüngeres Mädchen, hatte das Hilfskomitee trotz eifrigster Nachforschungen nichts anderes in Erfahrung bringen können, als daß sie in der Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück gefunden worden und daß sie vermutlich Geschwister waren.
Als sich bei der nach einem lange vorher festgelegten Plan vorgenommenen Aufteilung der Waisen auf die Adoptiveltern herausstellte, daß die Geschwister von Ravensbrück (so hatte man die beiden, deren Identität nicht feststand, getauft) voneinander getrennt und bei verschiedenen Familien — der Junge in Acapulco, das Mädchen in Puebla — untergebracht werden würden, fing die Kleine, indem sie sich verzweifelt an den Bruder klammerte, herzbrechend zu weinen an und konnte weder durch Zureden noch durch Liebkosungen beruhigt werden.
So rührend erschien das Mädchen in seinem Kummer den Eheleuten B., bei denen es Aufnahme finden sollte, daß sie sich, ohne Rücksicht darauf, wie schwer es ihnen fallen würde, entschlossen, auch den Knaben zu sich zu nehmen. Welches Vorhaben allerdings leichter gefaßt als ausgeführt war, denn die Familie aus Acapulco wollte den Jungen zunächst unter keinen Umständen freigeben, und es bedurfte vieler beredter Vorstellungen, vieler Tränen und Versprechen, bis sie sich umstimmen ließ.
Endlich aber war es soweit, und die B.s konnten mit den beiden Geschwistern nach ihrem Wohnort Puebla abreisen. Dort angelangt, machte Frau B. sich sogleich daran, die Kinder, die noch in dem Zeug steckten, das sie bei ihrer Auffindung im Ravensbrückischen getragen, frisch einzukleiden. Sie hatte die alten Kleider schon zu einem Bündel für den Lumpensammler zusammengeschnürt, als ihr der Gedanke kam, den Geschwistern je ein Kleidungsstück — eine Schürze und einen Rock — als Andenken an ihre dunkle Frühzeit aufzuheben.
Wer beschreibt die Erschütterung der Frau, als sie beim Säubern des Rockes einen mit halbverwischten Bleistiftkritzeln bedeckten Zettel entdeckte, dessen Botschaft lautete:
"Ich schreibe diese Zeilen eine Stunde vor meinem Abtransport nach dem Vergasungslager in der wahnwitzigen und doch nicht untergehenwollenden Hoffnung, daß meine zwei Kinder mit dem Leben davonkommen und Unterschlupf und Hilfe bei großherzigen Menschen finden könnten. Wenn diese Hoffnung sich erfüllt, bitte ich die Beschützer meiner Kinder, ein übriges zu tun und von ihrer Rettung meine Schwester, das einzige Mitglied unserer Familie, das sich ins Ausland retten konnte, zu benachrichtigen…"
Diese Schwester im Auslande war aber niemand anders als Frau B.
Der Zauberer
Egon Erwin Kisch kannte eine ganze Reihe von Taschenspielerstücken. Er liebte es sehr, sie vorzuführen, und gab mit der ihm eigenen Ironie gern zu, es sei etwas Wahres an den Reden boshafter Freunde, die da behaupteten, ihm bereite ein literarischer Triumph nur halb soviel Freude wie ein Erfolg als Zauberkünstler. Häufig und mit besonderem Stolz sprach er davon, daß ihn in seiner ganzen Magikerlaufbahn das Glück nur ein einziges Mal im Stich gelassen habe. In Wirklichkeit gab es der Durchfälle zwei. Doch von dem zweiten erfuhr ich erst spät und nicht durch ihn. Dagegen hörte ich die Geschichte des ersten mehrmals aus seinem eigenen Munde.
"Das kam so", pflegte er zu erzählen, "ich hatte einmal in der Pariser Emigrationszeit auf einer Weihnachtsfeier für die Kinder unserer Genossen aufzutreten. Alle waren von mei-nen Zauberkunststücken begeistert, nur ein Dreikäsehoch zeigte nicht die geringste Teilnahme. Ihr könnt euch denken, daß ich mich besonders anstrengte, ihn wenigstens zu einem Lächeln zu bringen; es war sozusagen eine Sache der Berufsehre. Aber der Junge blieb völlig gleichgültig. Schließlich hielt ich es nicht länger aus und fragte ihn rundheraus, ob er an meiner Zauberei etwas auszusetzen habe. Dabei ließ ich wie unabsichtlich drei Fünf-Francs-Stücke, mit denen ich spielte, verschwinden. Das ist, wie ihr wißt, eine meiner Glanznummern. Der Knirps zuckte auch dabei mit keiner Wimper. "Geld wegmachen", meinte er geringschätzig, "das können meine Eltern auch, bei uns zu Hause ist meistens keines da. Aber Geld herzaubern, ja, das wäre was!" Da war natürlich nichts zu machen, denn wer von uns verstand schon I im Exil Geld herzuzaubern?"
Die Kenntnis von Kischs zweitem Mißgeschick auf dem Gebiet der weißen und schwarzen Magie verdanke ich einem Freund, der es als Begleiter des Rasenden Reporters auf einer Eisenbahnfahrt in Mexiko miterlebte. Kisch freundete sich im Handumdrehen mit den anderen Passagieren, fast durchwegs Indios, an und begann alsbald zu zaubern. Eine Weile ging alles vortrefflich, bis plötzlich ein Weißer, der bis dahin stumm in seiner Ecke gesessen, laut auflachte, sich ins Gesicht griff und das rechte Auge aus der Höhle holte. Der gläserne Augapfel auf der Handfläche des Rivalen brachte Kisch um allen Erfolg. "Ich habe ihn selten so aufgebracht gesehen wie damals", schloß mein Gewährsmann seine Geschichte. ""Was für ein Schwindler!" rief er ein über das andere Mal aus. "Unsereins lernt seine Magikerkunststücke im Schweiße des Angesichts, strengt sich beim Zaubern ehrlich an, und so ein hergelaufener Kerl läßt sich einfach ein Auge ausschlagen und blufft dann die Leute mit seiner billigen Imitation aus Glas. Wenn das nicht Schmutzkonkurrenz ist!"…"
Ehre, wem Ehre gebührt
Vornehmen und begüterten Besuchern der chilenischen Stadt Sewell wird von den Direktoren der Braden Company, einer New-Yorker Unternehmung, der alle Minen von Sewell gehören, gern ein Denkmal gezeigt, das einen Indio in Bergmannstracht darstellt. Der Mann, dem dieses Monument — auf Kosten der Firma, wie die Herren Direktoren niemals zu erwähnen vergessen — gesetzt wurde, hieß Abraham Quintana und war ein Häuer mit sechzig Dienstjahren. Auf dem Sockel steht: "Ehre, wem Ehre gebührt. Dem ältesten Minenarbeiter. Braden Company" und darunter: "Bronzeguß, Produkt der Vereinigten Staaten".
Außer dem Denkmal erhielt Quintana von der Braden Company nichts geschenkt, und auch das Denkmal durfte er sich für gewöhnlich nur aus einiger Entfernung ansehen, denn es steht auf dem Gelände der Grubendirektion, dessen Betreten den Indios nicht ohne weiteres gestattet ist. De Verlegenheit, Abraham Quintana eine Altersrente abschlagen zu müssen — Unterstützungen dieser Art widersprechen dem von der Company über alles hochgehaltenen Grundsatz freien Unternehmertums —, entgingen die New-Yorker Herren durch eine glückliche Fügung des Schicksals: Der Alte starb an einem Herzschlag im Schacht. Für die Witwe hatte natürlich ihr Sohn zu sorgen, ein Bergmann wie sein Vater. Dies tat er auch bis zu dem Tage, an dem er fristlos entlassen wurde, weil er es gewagt hatte, der Gewerkschaft beizutreten und auf einer ihrer Versammlungen über die vollen Taschen der Aktionäre und die leeren Bäuche der Arbeiter zu sprechen. Da er in Sewell keine wie immer geartete Arbeit mehr bekam — so ergeht es nämlich in dieser chilenischen Stadt jedem Chilenen, den die Herren aus New York auf ihre schwarze Liste gesetzt haben —, mußte er sich von dannen scheren. Seine Mutter konnte er, für den es auch in der Umgegend, ja in der ganzen Provinz weder einen dauernden Verdienst noch eine Bleibe gab, nicht mit sich nehmen. Sie blieb in Sewell. Es gelang ihr, sich eine Weile mehr schlecht als recht durchzuschiagen, dann ging es nicht weiter. Nachbarn, die sie am Verhungern fanden, wurden bei der Grubendirektion vorstellig, um eine Rente für die Witwe des Mannes zu erbitten, dem das Unternehmen — Ehre, wem Ehre gebührt! — ein Denkmal errichtet hatte. Sie erhielten einen abschlägigen Bescheid. Die Braden Company sei keine Wohlfahrtsanstalt, und wohin geriete man, wenn man erst einmal anfinge, seine eigenen Grundsätze zu durchlöchern? Auch käme eine Unterstützung in diesem Falle nicht so sehr der Witwe eines treuen Betriebsangehörigen wie der Mutter eines gefährlichen Hetzers zugute, und obschon es in der Schrift heiße, daß man seinen Feinden vergeben solle, so sei damit nicht gesagt, man habe ihnen sein gutes Geld nachzuschmeißen.