Merke: In derselben "Süddeutschen Zeitung" stand zur selben Zeit zu lesen, daß dem ersten Leiter der Hitlerschen Geheimen Staatspolizei, Regierungsrat Diehls, bis zur endgültigen Regelung seiner Pensionsansprüche von Rechts und Gesetzes wegen ein Übergangsgehalt gewährt werden mußte.
Als die sechsundsiebenzigjährige Rosa L… in Bonn um eine Rente einkam, weil ihr Mann von den Hitlerschen nach Riga verschickt und im dortigen Getto liquidiert worden war, wurde sie aufgefordert, urkundlich nachzuweisen, daß L… tatsächlich zu der angegebenen Zeit und an dem angegebenen Orte den Tod gefunden habe. Diesen Nachweis konnte die Witwe nicht erbringen. Man hatte das Getto in großer Eile liquidiert und keine individuellen Totenscheine ausgestellt. Doch ließ sich einwandfrei beweisen, daß alle 27 000 Insassen des Gettos ermordet worden waren. Allein dieser Umstand gereichte Frau L… zu besonderem Nachteil. Sie konnte nämlich infolgedessen auch keine Zeugen nennen, die den Tod ihres Mannes hätten bestätigen können, und so wurde sie abschlägig beschieden.
Merke: Nichts wäre falscher, als den Bonner Behörden Voreingenommenheit gegen Frau L… vorzuwerfen. Nur einen Tag später entzogen sie mit dem gleichen unwandelbaren Respekt vor dem Buchstaben des Gesetzes der Witwe eines im letzten Jahr der Hitler-Herrschaft hingerichteten Arbeiters die bisher gewährte Rente, weil eine Nachprüfung ihres Falles ergeben hatte, daß der Hingerichtete Gelder für die Hinterbliebenen Ernst Thälmanns gesammelt und sich dergestalt "der Unterstützung einer Gewaltherrschaft" schuldig gemacht habe.
Der Blinde, der Taube und der Lahme
Als die Franzosen nach dem Abschluß des Waffenstillstands in Indochina der vietnamesischen Freiheitsarmee die ersten Kriegsgefangenen übergaben, stellte sich heraus, daß diese in ihrer übergroßen Mehrheit nicht Soldaten, sondern Bauern waren, deren sich das französische Expeditionskorps als Geiseln, oder um überhaupt Gefangene in den Händen zu haben, bemächtigt hatte. Unter den wenigen Soldaten — es waren ihrer kaum ein Dutzend vom Tausend — zogen drei die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Der eine hatte im Kampf das Augenlicht verloren, der zweite war infolge schwerer Malaria ertaubt, und den dritten hatten die Wachmannschaften im Lager lahm geprügelt. Im Augenblick der Übergabe zog der Blinde plötzlich unter seinem Kittel eine rote Fahne mit gelbem Stern — die Fahne des freien Vietnam — hervor und schwenkte sie hoch über seinem Kopf und den Köpfen der Kameraden.
Bei näherer Besichtigung erwies sich, daß die Fahne von seltsamer Beschaffenheit war. Für das Fahnentuch hatte der Blinde sein einziges Hemd hergegeben. Der Lahme hatte mit Blut aus seinen Wunden für den dunkelroten Farbton gesorgt. Und der Taube hatte sich von dem wenigen Quinacrin, das er als Mittel gegen seine Fieberanfälle erhielt, so viel erspart, daß der Stern gelb gefärbt werden konnte.
Die Fahne war schon zwei Jahre alt. Der Blinde, der Taube und der Lahme hatten sie heimlich in der Gefangenschaft angefertigt, weil man doch, wie sie sagten, am Tage des Sieges nicht ohne Fahne dastehen durfte.
"Und ihr habt immer an diesen Tag geglaubt?" fragte ein ausländischer Korrespondent.
"Ja", erwiderte der Lahme. "Wir sind ihm immer entgegenmarschiert."
"Wir haben sein Kommen immer gehört", sagte der Taube der die Frage von den Lippen des Dolmetschers ablas.
"Wir haben ihn immer vor uns gesehen", fügte, der Blinde hinzu.
"Es klingt unglaublich", schließt der Bericht des ausländischen Korrespondenten, "aber so war es: Da standen die drei, da wehte ihre Fahne, und da blaute der Tag des vietnamesischen Sieges."
Immer dasselbe
Mütter bringen Kinder zur Welt. Keine gleicht der anderen Und doch ist es immer dasselbe. Blumen sprießen im Frühling. Jede unterscheidet sich von der anderen. Und doch ist es immer dasselbe.
Warum sollte es uns wundern, daß Menschen in derselben Weise für den Frieden kämpfen, auch wenn sie verschiedene Gesichter haben, verschiedene Sprachen sprechen und in verschiedenen Landstrichen wohnen?
Im Dorfe Mutsuras auf der griechischen Insel Kreta rotteten sich, als amerikanische und britische Soldaten darangingen, auf dem Dorfanger einen Flugplatz für die nordatlantischen Streitkräfte anzulegen, die Frauen mit ihren Kindern zusammen und erklärten dem fremden Kommandeur, daß sie dieses Vorhaben nicht dulden würden.
Als die Soldaten die Bäume auf dem Anger fällen wollten, wurden sie mit Steinen beworfen.
Als sie Wasser aus dem Brunnen schöpften, fand sich Kot darinnen.
Als sie mit Traktoren und Erdbaggern angefahren kamen, versperrten ihnen die Frauen und Kinder mit ihren Leibern den Weg.
Nach drei Tagen gaben die Eindringlinge ihr Vorhaben auf.
Raymonde Dien legte sich auf die Schienen einer französischen Eisenbahn, um den Transport von Material für den "schmutzigen Krieg" in Vietnam zu verhindern. Die Einwohner des japanischen Fleckens Uzinada hockten hundertacht Tage und Nächte auf ihrer Straße und blockierten so die Zufahrt zu einem im Bau befindlichen Schießplatz der Besatzungstruppen. Badische Jungarbeiter mauerten, ohne der Gefahr für Leben und Freiheit zu achten, viermal die von den Amerikanern angelegten Sprengkammern unter den Brücken der Neckartalbahn zu. Eskimos auf Grönland zerbrachen ihre Schlitten, um nicht Vorräte für eine Gruppe amerikanischer Militäringenieure fahren zu müssen, die das Terrain eines neuen Stützpunktes vermaßen.
Mütter bringen Kinder zur Welt. Blumen sprießen im Frühling. Menschen kämpfen für den Frieden. Daß sie es in derselben Weise tun, auch wenn sie verschiedene Gesichter haben, verschiedene Sprachen sprechen und in verschiedenen Himmelsstrichen wohnen — wen könnte das wundern?
Die Steine reden
In Famagusta auf Zypern — wer erinnert sich bei diesem Namen nicht an die Erzählungen von Fortunat und seinen Söhnen? — ereignete sich vor kurzem eine Geschichte, die vielleicht weniger wunderbar, aber dennoch nicht weniger merkenswert ist als das Fortunatmärchen.
Eines Tages war an den Mauern vieler Häuser zu lesen: Es lebe der Friede und die Vereinigung Zyperns mit dem griechischen Mutterland!"
Der britische Gouverneur gab sofort Befehl, diese Aufschriften zu entfernen. Das kostete nicht wenig Mühe und Geld, aber weder mit dem einen, noch mit dem anderen wurde gespart. Am Abend war die Arbeit getan. Am nächsten Morgen stand an den Mauern: "Es lebe der Krieg und die Kolonialherrschaft! Der britische Gouverneur." Wieder wurde die Schrift getilgt. Während der Nacht bewachten Patrouillen der Polizei und des Besatzungsheers die "gesäuberten" Mauern. Am nächsten Morgen leuchteten vom Turm der Kathedrale die Worte: "Wenn ihr die Schrift auch wegwischt, die Steine reden!"
Gründlichkeit, Ordnungsliebe und Geschäftsgeist
Diese Geschichte wird erzählt, weil so viele Menschen kommen und sagen: "Man lasse geschehen sein, was geschehen ist, und wecke die Toten nicht auf!" Weil so viele Menschen kommen und das sagen, darum wird diese Geschichte erzählt.
Der Kommandeur des Vernichtungslagers Petrikow, ein ehemaliger Buchhalter und späterer SS-Führer namens Müller, liebte es, seinen Opfern, bevor er sie erschießen ließ — man war in Petrikow auch im vorletzten Kriegsjähr noch nicht ganz auf der Höhe und benutzte zur Liquidierung von zwanzigtausend jüdischen Männern, Frauen und Kindern statt des rationellen Giftgases die Schußwaffe —, lange Reden über das zu halten, was er den deutschen Charakter und dessen Tugenden nannte, wobei er insbesondere die Gründlichkeit und Ordnungsliebe hervorhob.