Daß er diese beiden in hohem Grade und dazu noch ein gerüttelt Maß von Geschäftsgeist besessen haben muß, geht aus einem Brief hervor, den man nach dem Sieg über die Hitler-Armee im Kleidermagazin des Petrikower Lagers gefunden hat. Der Brief stammt von einer Unbekannten, über die wir nur wissen, daß ihr Vorname Rahel und sie selbst am 26. April 1943 noch unter den Lebenden gewesen ist, und es heißt darin: "In Petrikow schaut es so aus: Vor dem Grab wird man ganz nackt entkleidet, muß niederknien und wartet auf den Schuß. Angestellt stehen die Opfer und warten, bis sie dran sind. Dabei müssen sie die ersten, die Erschossenen, in den Gräbern sortieren, damit der Platz gut ausgenützt und Ordnung ist. Die ganze Prozedur dauert nicht lange. In einer halben Stunde sind die Kleider der Erschossenen wieder im Lager. Nach der Aktion hat der Judenrat eine Rechnung über dreißigtausend Zloty für verbrauchte Kugeln bekommen. Die mußten bezahlt werden."
Über das weitere Schicksal des Müller haben wir nichts weiter erfahren können, doch ist hundert gegen eins zu wetten, daß er, wenn noch am Leben, irgendwo westlich der Elbe in angenehmsten Verhältnissen seine Tage verbringt. Auch deshalb wird diese Geschichte erzählt, und ihr solltet sie, traun,fleißig weitererzählen.
Nachschrift. Im Juli des Jahres 1955 stand in Münchener Zeitungen zu lesen, daß ein Abgeordneter der Christlich-Sozialen Union, Heinrich Junker, im bayrischen Landtag den Antrag eingebracht habe, die öffentliche Besichtigung des Krematoriums im ehemaligen Konzentrationslager Dachau nicht weiter zu gestatten, um so "der Propaganda, in diesem Krematorium seien Opfer des Nationalsozialismus vergast oder lebendig verbrannt worden", ein Ende zu machen. Diese Propaganda schädige unter anderem auch den Fremdenverkehr.
Stahl
Als der Schneidergeselle Hensel, dem die Partei der Arbeiterklasse die Leitung der Maxilütte anvertraut hatte, die Ingenieure des Werks zusammenrief, auf daß man miteinander bekannt werde, fand er sich einer schier unübersteigbaren Mauer des Mißtrauens und der Geringschätzung gegenüber.
"Seien wir offen", sagte Hensel, der gewohnt war, den Stier bei den Hörnern zu packen, "Sie trauen mir einfach nicht die Fähigkeit zu, die Maxhütte zu leiten."
"Wie könnten wir's auch", fragte nach einigem Zaudern einer der Ingenieure, "wo Sie noch nie ein Stück Stahl in der Hand gehabt haben?"
"Doch: die Nadel!" entgegnete Hensel und schlug damit die erste Bresche in die Mauer. Im Jahre darauf hatte er, der nachts studierte, um tags Berichte prüfen und Anordnungen geben zu können, die Achtung der Ingenieure in solchem Maße erworben wie kein "gelernter Direktor" vor ihm.
Herz und Hose
Auch das Lachen ist eine Waffe. Die Dänen wußten sie im Kampf gegen die verhaßte braune Okkupation nicht schlecht zu gebrauchen, wie die nachfolgende Geschichte bezeugt, die sich im Jahre 1944 zu Kopenhagen begeben hat.
Eines schönen Sommertags mußten alle dänischen Gäste das Hotel d'Angleterre räumen, um Platz für einen hohen Würdenträger des Dritten Reichs zu machen. Zum Schutze des kostbaren Besuchs bezogen mehrere schwer bewaffnete SS-Soldaten vor dem Hoteleingang Wache, und zu ihrem Schutze wiederum wurde vor jedem Posten ein Stahlschild aufgestellt. Diese Schilde, nicht unähnlich den Blechschirmen der Pariser Straßenabtritte, ließen von den hinter ihnen Stehenden nur Kopf und Stiefel sehen. Einem der Soldaten fiel es nun auf, daß die vorbeikommenden Dänen bei seinem Anblick stutzten und ihren Weg dann mit einem höhnischen oder grimmigen Feixen fortsetzten. Als er daraufhin hinter seiner Schutzwehr hervortrat, um nachzuschauen, was die Vorübergehenden zu solcher Reaktion veranlaßt haben mochte, stach ihm eine mit Kreide auf den Stahl gekritzelte Inschrift in die Augen. Sie lautete: "Ich habe keine Hose an, wohin nur mit meinem Herzen?"
Die Träne des Löwen
Als der achtzigjährige Churchill, dem Drängen seiner eigenen Partei nachgebend, die auf diese Weise ihre Aussichten im Wahlkampf zu verbessern hoffte, vom Amte des Premierministers zurücktrat, besuchte ihn nach einem alten Brauch des Hofzeremoniells die Königin in seinem Amtssitz, Downingstreet 10, um mit ihm und seinen nächsten Mitarbeitern zu tafeln. Die Zeitungen, die mit der bei solcher Gelegenheit gebotenen Ehrfurcht und Genauigkeit über die Toiletten, Speisen, Getränke und Trinksprüche berichteten, ließen auch die Rührung zu ihrem Rechte kommen, indem sie übereinstimmend erwähnten, daß im Auge des alten Löwen eine Träne geglänzt habe, als ihm von Ihrer Majestät beim Abschied die Hand zum Kuß gereicht wurde.
Einer seiner alten Freunde, Lord E…, soll daraufhin zu dem Schatzkanzler, Sir B…, bemerkt haben, man hätte diese Träne konservieren und im Panzerkeller der Bank von England verwahren sollen, denn sie stelle wegen ihres Seltenheitswertes eine größere Kostbarkeit dar als die indischen Juwelen der Krone.
In der Tat, wie kostbar war diese Träne, wenn man bedenkt, was die Augen des Löwen in seinem langen Leben alles zu sehen vermocht hatten, ohne feucht zu werden: die ersten Konzentrationslager im Burenkrieg und die Gräber der durch seine dilettantischen Schlachtpläne hingeopferten englischen Regimenter auf Gallipoli; die Greuel der von ihm angezettelten und verlorenen Interventionsfeldzüge gegen die junge russische Revolution und das Martyrium der in Kenia, Malaya und anderen Kolonien gejagten und hingerichteten Freiheitskämpfer. Ja, wie kostbar war doch die Träne, die da aufglänzte im Auge des Löwen über einer vom Whisky sanft geröteten Nase!
Das Zögern des Reverend Tanimoto
Die amerikanische Rundfunkgesellschaft NBC widmete eine inrer sonntäglichen Fernsehsendungen, die unter dem Titel "Das ist euer Dasein!" laufen, dem Leben und Wirken eines im zarten Jünglingsalter zum Christentum bekehrten, von Missionaren nach Kalifornien gebrachten, dort zum Methodistenpriester ausgebildeten und später in seine Heimat zurückgeschickten Japaners namens Kijoschi Tanimoto.
Der gelbhäutige Seelsorger wurde dem Publikum als Hirte einer einzigartigen Herde präsentiert: als Betreuer von fünfundzwanzig jungen Mädchen aus Japan, denen die Großherzigkeit kalifornischer Millionäre gestattet hatte, der Segnungen einer neuerdings hochentwickelten ärztlichen Kunst, der plastischen Chirurgie, teilhaftig zu werden, die es fertigbringt, auch zur Unkenntlichkeit verstümmelten Gesichtern einen Schein menschlichen Aussehens zurückzugeben — welch Samariterdienst in diesem Falle seine besondere Note durch den Umstand erhielt, daß die Mädchen Einwohner der ersten von einer amerikanischen Atombombe getroffenen Stadt, Hiroshima, waren.
Der japanische Reverend, heißt es in einem Pressebericht über jene Fernsehsendung, habe mit dumpfer Stimme und unbewegter Miene von der Katastrophe erzählt, bei der er wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen; dann sei auf der Bühne ein kräftiger Amerikaner erschienen und dem nichtsahnenden Tanimoto als Mr. Robert Lewis, vormals Pilot des Flugzeugs "B-29, Encla Gay" vorgestellt worden, desselben, das die Bombe auf Hiroshima abgeworfen hatte.
Ob Tanimotos Miene auch weiterhin unbewegt blieb, ist uns nicht bekannt. Aus dem bereits erwähnten Bericht erfahren wir nur, daß er die ihm entgegengestreckte Hand des Mr. Lewis erst "nach einem leichten Zögern" ergriff, worauf dieser, der gegenwärtig den Posten eines Personalchefs bei der Henry Heide Inc., Konfekterzeugung, Manhattan, bekleidet und sich einer beneidenswerten Frische und Unbekümmertheit zu erfreuen scheint, die Geschichte des Bombenabwurfs, so wie er ihn erlebt hatte, zum besten gab.
"Eine Unterhaltung erster Klasse!" lautet das abschließende Urteil des ungenannten Reporters, dem wir den merkwürdigen Bericht — die Quelle unserer Anekdote — verdanken.