Winter 1934 trafen sich des öfteren in einer abgelegenen Riesengebirgsbaude Genossen aus dem Böhmischen und Genossen aus Deutschland. Die einen brachten Zeitungen und Flugschriften, die anderen Nachrichten. Man blieb nur eine Nacht beisammen, aber in den wenigen Stunden wurde viel gesprochen. Mehrere der Geschichten habe ich bereits aufgeschrieben. Hier sind zwei weitere. Der sie erzählte, war ein Kumpel aus dem Mansfelder Revier.
In dem schwäbischen Dorf G…, dessen Einwohner, kleine Bauern, sich aus Angst vor den Zwangsversteigerungen und im Glauben an die Versprechungen der Nationalsozialisten diesen schon früh angeschlossen hatten, dann aber, als unter Hitler alles beim alten blieb, die Steuern und der Bodenzins nicht abgeschafft wurden, die Reichen reich blieben und die Armen arm, in eine große Verbitterung gerieten, erschien am "Erntetag" eine Abteilung der SA aus der Kreisstadt, um die freiwillige Winterhilfsspende einzutreiben.
Als ein Truppführer und drei SA-Männer zu dem Christoph V… kamen, einem alten Bauern, dessen hitziger Sohn im Konzentrationslager saß, weil auf seinem Scheunentor gestanden hatte: "Hitler gib Brot, sonst gehen wir tot!", sagte der Alte, er habe nichts zu verschenken, und wenn sie durchaus Spenden brauchten, so sollten sie dorthin gehen, wo etwas zu holen sei: zu den Herren Gutsbesitzern und Fabrikdirektoren. Auch als man ihn und nachher, vor seinen Augen, die Frau mit dem Ochsenziemer "gekitzelt" hatte, blieb er bei seiner Weigerung, und erst als die Braunen sich anschickten, das Enkelkind, die Tochter des im Konzentrationslager Gefangengehaltenen, zu schlagen, rief er, es sei gut, sie sollten das Kind loslassen, er wolle ihnen zeigen, wo das Korn versteckt liege.
Er führte die vier auf die Tenne, wies ihnen einen Strohhaufen und sagte, daß darunter die Frucht zu finden sei, man brauche nur das Stroh wegzuräumen, so stoße man auf die Getreidesäcke.
Der Truppführer bückte sich, um in das Stroh zu greifen. Da riß der Alte, bevor die SA-Männer auch nur ahnten, was vor sich ging, einen Dreschflegel von der Wand und ließ diesen, weit ausholend, mit voller Wucht auf den Schädel des Truppführers niedersausen. Dabei rief er, so laut, daß man es bis in die Stube hinein hören konnte: "Friß dich satt, Nimmersatt! Friß dich satt, Nimmersatt!"
Man fand ihn, den die Braunen mitnahmen, später mit gefesselten Händen erhängt am Ast eines Nußbaumes.
"Auf der Flucht erhängt", sagten die Bauern.
Jetzt kann man davon berichten, jetzt, da alle, die daran beteiligt waren, tot oder in Sicherheit sind.
Also wir hatten einen Verbindungsmann bei den Braunen, einen von der sogenannten alten Garde der SA, einen westfälischen Kumpel, der ehrlich an die Volksgemeinschaft und die anderen nationalsozialistischen Märchen geglaubt hatte und der von dem, was nach Hitlers Machterschleichung kam, grausam enttäuscht worden war.
Zuerst ließ er uns, ohne sich zu erkennen zu geben, von Zeit zu Zeit eine Warnung zugehen: wenn eine Fahndung bevorstand, oder eine unserer Anlaufstellen ausgehoben werden sollte, oder sonst ein größerer Schlag gegen uns geplant war. Später nahm er die unmittelbare Verbindung mit uns auf, und schließlich arbeitete er mit einer Selbstverständlichkeit und eine Eifer für unsere Sache wie ein alter, lang erprobter Genosse.
Wie er hieß, wieß ich nicht; es tut auch nichts zur Sache. Wir nannten ihn,weil er den ersten Zettel an uns so unterzeichnet hatte: Hundegustav.
Hundegustavs Hilfe kam uns sehr gelegen. Die Organisation war durch die Verhaftungen im Frühjahr und Sommer außerordentlich geschwächt worden und kam, da immer Wieder jemand hochging, nicht recht vom Fleck. Hundegustav führte uns auf die Spur des Spitzels, der die meisten der verhafteten Genossen verraten hatte, und Hundegustav war es auch der den Braunen ein paar Papierchen in die Hände spielte, aus denen hervorging, daß der Kerl nicht nur für sie, sondern auch für uns arbeitete — worauf sie beschlossen, den "Doppelspitzel" unschädlich zu machen. Sie holten ihn nachts aus dem Bett und ließen ihn in der Talsperre ersaufen.
Jetzt konnten gefährdete Verbindungen wiederaufgenommen, zersprengte Gruppen neu gesammelt werden. Die Arbeit kam in Schwung. Die Zellenzeitungen erschienen pünktlich und tauchten in den Betrieben und Arbeitersiedlungen auf.
Die Gestapo bemühte sich auf jede mögliche Weise, unsere unterirdische Organisation aufzurollen, wie sie das nennen, aber außer einigen Zeitungsbündeln oder vier, fünf beim Flugblattverteilen erwischten Frauen bekamen sie nichts und niemand zu fassen, und unsere Arbeit erlitt durch diese durchaus zufälligen Schläge keine Unterbrechung.
Hundegustav war als Meldegänger dem Stab der SA zugeteilt. Er tippte mehr als einmal in seiner Freizeit unsere Flugzettel auf der Schreibmaschine des Stabes ab. Wenn wir ihn zur Vorsicht mahnten, meinte er lachend, ihm geschehe nichts, unter dem Leuchter sei es am dunkelsten. Und er habe so viel gutzumachen und nachzuholen, daß wir ihm diese paar "Überstunden" zubilligen müßten.
Sie erwischten ihn auch nicht, aber da ereignete sich die Sache mit dem Kurier aus Berlin. Der wurde durch einen jener Zufälle verraten, die man beinahe bösartig nennen könnte. Ein Mädchen, mit dem er vor Jahren etwas gehabt hatte, jetzt Braut eines SS-Führers, erkannte ihn, ohne daß er es merkte, und hetzte ihm die Gestapo auf den Hals. Er war gerade mit Karl bei mir in meiner Laube, als sie angerückt kamen, zehn oder zwölf Mann hoch. Es war Nacht, und sie hatten Angst oder waren von dem Mädchen aufgehetzt worden, kurz, sie knallten los, kaum daß sie "Hände hoch!" gebrüllt hatten. Glücklicherweise ging die Glühbirne sofort in Scherben, so daß es dunkel wurde. Wir konnten durch die Hintertür entwischen. Aber sie hatten auch draußen Posten stehen und veranstalteten eine richtige Treibjagd auf uns. Dem Kurier und mir gelang es trotzdem, zum Fluß hinunter und über das Wasser zu entkommen. Aber Karl fiel ihnen in die Hände, er wurde an der Schulter verwundet und stürzte.
Von ihnen waren zwei Mann verletzt, einer leicht, einer schwer. Vielleicht hatten sie einander angeschossen, vielleicht war der eine oder andere von den Schüssen getroffen worden, die der Kurier abgegeben hatte, um sie an unserer Verfolgung zu hindern. Für sie stand fest, daß es unsere Schüsse gewesen waren. Sie fielen über Karl her und hätten ihn totgetrampelt, wenn nicht einer geschrien hätte: "Halt, laßt mal! Nehmt das Schwein mit, es muß erst verhört werden!"
Sie schleppten Karl zur Stabswache. Dort war Hundegustav. Er hatte gerade Dienst. Als sie Karl hereinschleiften, mußte er glauben, es sei alles verloren, denn Karl war es ja, mit dem er zusammenarbeitete. Er blieb aber, wie Karl später erzählte, ganz ruhig, nur das Blut wich ihm aus dem Gesicht.
Ob die Kerle das merkten und Verdacht schöpften oder ob sie ohne besondere Absicht handelten, war nicht zu erkennen: Kurz, sie forderten Gustav auf, einen Ochsenziemer zu holen und den Gefangenen zu verhören; sie selbst seien zu müde zu dieser Prozedur. Hundegustav lehnte ab. Er tue so etwas nicht, erklärte er, das sei eines alten Kämpfers unwürdig und dazu sei er auch gar nicht da.
Wenn sie nicht schon vorher mißtrauisch waren, so wurden sie es jetzt. Zuerst krakeelten sie, dann aber entschied der Sturmführer: Gut, wenn Hundegustav glaube, er sei nicht dazu da Verhaftete zu prügeln, so solle er recht haben; aber zum Schießen sei er doch wohl da, und so werde er eben schießen; aus dem Gefangenen sei ja doch nichts herauszubekommen Er gab auch gleich den Befehl zum Abmarsch h dem Steinbruch. Dort wurden gewöhnlich die Erschießungen "auf der Flucht" vorgenommen.
Der letzte Teil des Weges zum Steinbruch ist eine Art hohle Gasse. Nur zwei Menschen können dort nebeneinander gehen. Karl bekam Hundegustav zum Nebenmann. Es kann sein daß der es so eingerichtet hatte. Es kann aber auch sein, daß die anderen gerade diese beiden zusammengehen ließen, um Hundegustav eine Falle zu stellen. Wie dem auch sei, Karl hatte die Möglichkeit, seinem Nachbarn ein paar Worte zuzuflüstern. Er bat Hundegustav, keine Dummheiten zu machen; mit ihm selbst sei es ohnehin aus, da dürfe nicht noch ein zweiter der Unsrigen kaputtgehen. "Schieß als erster, Gustav", drang er in ihn, "das wird für dich gut sein und auch für mich. Immer noch besser so hinüberzukommen, als totgeprügelt. Schieß in den Kopf, dann ist es gleich vorbei, und du kannst für unsere Sache weiterarbeiten." Aber Gustav wollte davon nichts hören. "Ich weiß schon, was ich zu tun habe", sagte er. Und als Karl sich nochmals anschickte, ihn eines anderen zu belehren, ließ Hundegustav ihm keine Zeit mehr. "Lauf!" rief er laut, "lauf!" Die zwei, die vor ihnen gingen, fuhren herum, aber da schoß Hundegustav schon, und die zwei stürzten. Dann schoß er nach der andern Seite, in den Hohlweg hinein. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aber er hatte nur sechs Patronen in der Waffe. Fünf Schüsse gab er auf die Braunen ab, den sechsten jagte er sich selbst in die Schläfe. Bevor er abdrückte, rief er noch: "Es lebe die Kommune!"