Karl konnte in der Verwirrung entkommen. Die Braunen hatten zuviel mit ihren fünf Getroffenen zu tun. Der Sturmfuhrer und sein Stellvertreter waren darunter.
Vor einer Woche haben wir Karl über die Grenze in Sicherheit gebracht, seine Wunde ist nicht gefährlich. Die Genossen unserer Gruppe sind unbelästigt geblieben, Hundegustav hat offenbar kein belastendes Material bei sich oder zu Hause gehabt. Und unsere Arbeit geht weiter. Das könnt ihr schon daraus ersehen, daß ich zu diesem "Treff" gekommen bin.
Schatten und Sonne
Der erste, den das nach dem blutigen Februar 1934 gegen die Wiener Arbeiter eingesetzte Standgericht abzuurteilen hatte war der Gärtner Münichreiter, ein schmächtiger Mann, dem eine Maschine die linke Hand und eine lange Arbeitslosigkeit die Lunge verkrüppelt hatten. Er war bei den Kämpfen im Stadtbezirk Hietzing von den Regierungstruppen mit zerschmetterter Hüfte und durchschossenem Arm hinter einer zerstörten Barrikade aufgelesen worden und wurde, nachdem der Polizeiarzt festgestellt hatte, daß er verhandlungsfähig sei, weil nach dem Gesetz nur schwere Erkrankung, nicht jedoch schwere Verwundung einen Vertagungsgrund darstelle, vom Standgericht zum Tode durch den Strang verurteilt.
Auf derselben Tragbahre, auf der man ihn in den Gerichtssaal getragen hatte, wurde er auch zum Galgen geschafft. Er starb als ein Mann, mit dem Lied von der Fahne rot auf den Lippen.
Bei der Witwe sprach wenige Tage später eine Dame der besten Wiener Gesellschaft vor, eine Abgesandte des "Hilfskomitees für die Hinterbliebenen getöteter Arbeiter", das von der Frau des "christlichen Bundeskanzlers", desselben, der auf die Arbeiter hatte schießen und elf von ihnen hinrichten lassen, geleitet wurde. Als die Dame eine Geldspende anbot und vorschlug, die Münichreiterkinder in einem Heim unterzubringen, wo es ihnen, wie sie sagte, unvergleichlich besser gehen werde als zu Hause, "im Schatten des Gerichteten", erwiderte die Mutter, sie verstehe zwar ihre Worte nicht so wohl zu setzen wie ihr ungebetener Besuch, aber sie wisse, daß die Kinder in diesem Schatten zu aufrichtigeren und wertvolleren Menschen aufwachsen dürften als in der Sonne einer Gnade, die von Arbeitermördern komme. Sprach's, öffnete die Türe und drehte der Dame den Rücken.
Klingelpuetz
Unter den Hinrichtungen, die im Dritten Reich bereits zu den alltäglichen Begebenheiten zählen — gibt es ihrer doch so viele, daß sogar der preußische Scharfrichter Gröpner an seinen Vorgesetzten schreibt, er fühle sich seinem Amt seelisch und körperlich nicht mehr gewachsen und bitte, es in jüngere, kräftigere Hände, etwa die seines Mitbürgers, des magdeburgischen Roßschlächters Bollmann, legen zu dürfen —, unter diesen Hinrichtungen wird die der sechs Arbeiter Wäser, Willms, Hammacher, Horsch, Moritz und Engel im Hofe des Kölner Gefängnisses Klingelpuetz für immer einen besonderen Platz einnehmen.
Als den Verurteilten, denen wohl die Qual monatelanger Fesselung und der Druck des ungeheuerlichen Urteils, nicht aber Angst vor dem Tode anzusehen war, vor dem Richtblock noch einmal das Verdikt und dann die Order Seiner Exzellenz, des preußischen Ministerpräsidenten, die Hinrichtung zu vollstrecken, vorgelesen wurde, riefen sie: "Wir sind keine Mörder!" — "Wir sind Revolutionäre!" — "Es lebe die Weltrevolution!"
In diesem Augenblick ertönte von den Fenstern einiger Zellen, in denen Genossen der Verurteilten saßen, die Internationale.
Das große, unsterbliche Lied der Arbeiter klang über den Hof, während der erste der sechs ergriffen, an den Klotz geschnallt und durch einen einzigen Hieb enthauptet wurde. Es klang über den Hof, als der Kopf des zweiten und der Kopf des dritten Verurteilten fiel; es tönte weiter, als der Henker — sei es, daß die Kräfte ihn verließen, sei es, daß der Schnaps, dem er vor Beginn der Hinrichtung überreichlich zugesprochen hatte, jetzt seine Hände zittern machte — bei der vierten fünften Vollstreckung fehlschlug und erst beim zweiten und dritten Hieb die Köpfe von den Körpern zu trennen vermochte. Und es erklang immer noch, als der sechste der Fensterputzer Engel, der die Schlußtakte des Liedes laut mitsang, angeschnallt und — da der Henker diesmal wieder richtig zuhieb — mit einem einzigen furchtbaren Schlag geköpft wurde.
I n die Zellen der Gefangenen, die gesungen hatten, drang in der Nacht SS ein und prügelte sie, bis keiner mehr einen Ton hervorbrachte. Zur selben Zeit verteilten jedoch die Kölner Kommunisten fünftausend Flugblätter mit der Kunde von der Hinrichtung in der Stadt und schrieben mit großen weißen Kalkbuchstaben auf das Pflaster vor dem Gefängnis: "Wir werden euch rächen!"
Das Propagandaministerium ließ als "Richtigstellung von Greuelnachrichten" folgende Darstellung durch den "Neuen Deutschen Pressedienst" verbreiten:
Die Hinrichtung war auf sieben Uhr dreißig morgens festgesetzt worden. Die in der Umgebung der Gefängnisse sehr zahlreichen Bewohner haben von ihr nichts bemerkt. In den Straßen blieb der Verkehr normal.
Kurz nach sieben Uhr fanden sich die zur Hinrichtung der Mörder bestellten Persönlichkeiten auf dem Schauplatz ein: der Generalstaatsanwalt, die Richter und zwölf Bürger der Stadt, unter ihnen der Oberbürgermeister, der Gefängnisdirektor, mehrere SA-Führer und der Polizeipräsident von Köln. Schlag sieben Uhr dreißig begann das Sterbeglöckchen zum erstenmal zu läuten. In diesem Augenblick wurde der erste Verurteilte aus seiner Zelle herausgerissen und in den Hof gebracht. Der Delinquent ließ sich ohne Widerstand bis zu einem Tisch führen, hinter dessen anderer Seite der Generalstaatsanwalt in seiner roten Robe stand. Dieser las mit lauter Stimme den Paragraph 221 des Strafgesetzbuches vor und verkündete die Ablehnung des Gnadengesuches durch den Ministerpräsidenten Göring.
Auf die Frage: "Haben Sie noch etwas zu sagen?" antworteten vier der Verurteilten mit "Nein".
Zwei von ihnen, Willms und Hammacher, erklärten:
Willms: "Ich verlange, daß man auf meine Frau und meine Kinder Rücksicht nimmt."
Hammacher: "Ich bin kein Mörder! Ich bin ein politischer Kämpfer!"
Während der Verlesung der Strafgesetzbestimmung standen die zum Tode Verurteilten mit dem Rücken einer kleinen, niedrigen und langgestreckten Plattform zugewendet, an deren Ende sich eine Art Richtblock erhob. Dieser Hinrich-tungstisch, der mit schwarzem Tuch zugedeckt war, befand sich ungefähr fünfzehn Schritte rückwärts und konnte von den Verurteilten nicht bemerkt werden.
Sobald jeder einzelne die Erklärung abgegeben hatte, daß er nichts mehr sagen wolle, stürzten sich zwei Gehilfen des Scharfrichters auf ihn, banden ihm die Augen zu, schleppten ihn an den Hinrichtungstisch und fesselten ihn dort.