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Schnappschüsse

Der Chefarchitekt von Berlin, Henselmann, traf einmal in einer Düsseldorfer Gesellschaft mit einem westdeutschen Baumeister zusammen, der vor kurzem eine Reise durch die Deutsche Demokratische Republik und einige mit ihr befreundete Staaten unternommen hatte.

Auf die Frage, wie es ihm dabei ergangen sei, antwortete er "Sehr gut!", setzte aber eilig hinzu, er würde, obwohl ihm die sozialen Errungenschaften des Ostens imponierten und er dort zweifellos ein viel größeres Wirkungsfeld finden könnte, doch nie und nimmer mit Henselmann oder einem von dessen Fachkollegen jenseits der Elbe tauschen.

"Und warum nicht?" wollte Henselmann wissen.

"Weil mir gewisse Dinge bei euch gegen den Strich gehen. Doch das läßt sich wohl am besten durch ein Erlebnis veranschaulichen, das ich gleich zu Beginn meiner Reise in Berlin hatte. Ich wollte das sowjetische Ehrenmal vor dem Brandenburger Tor photographieren, aber kaum hatte ich meine Kamera gezückt, als ein russischer Offizier auftauchte und mir durch Zeichen zu verstehen gab, daß ich das Knipsen unterlassen müsse. Bei uns im Westen ist mir so etwas nie begegnet. Besonders die Amerikaner haben mich so gut wie alles photographieren lassen. Das sind Kleinigkeiten, gewiß, aber gerade in solchen Kleinigkeiten offenbart sich mir das Vorhandensein oder Fehlen des Sinns für wahre Zivilisation und Freiheit. Doch das verstehen Sie vielleicht gar nicht?"

"Ich und das nicht verstehen?" rief Henselmann und setzte seine unschuldigste Lausbubenmiene auf. "Da kennen Sie mich schlecht. Mir sagen solche Kleinigkeiten nicht weniger als Ihnen. Aber am besten exemplifiziere ich das auch an einem Erlebnis. Als ich noch Professor in Weimar war, hatte ich zuweilen ausländischen Gästen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Eines Tages spielte ich den Führer für mehrere Offiziere der Sowjetarmee. Das Goethe-Haus am Frauenplan hatte es ihnen besonders angetan, und der Kustos, dem dies ebenso auffiel wie schmeichelte, entfernte im Sterbezimmer das Absperrungsseil und lud die Besucher aus Rußland ein, Bett und Lehnstuhl des Dichters aus nächster Nähe zu besichtigen. Doch die Offiziere wehrten mit einer Scheu, die schon an Erschrecken grenzte, ab und bestanden darauf, daß das Seil sofort wieder angebracht würde. Wenige Tage später fügte es der Zufall, daß ich eine Gruppe amerikanischer Offiziere ins Goethe-Haus begleitete. Auch für sie ließ der Kustos im Sterbezimmer das Seil hinunter. Er war damit noch nicht fertig, als sich einer der Yankees, ein noch jugendlicher Oberst, in Goethes Lehnstuhl warf und einem seiner Kumpane "Wonderful, Jimmy!" zurief und "Knips die ganze Filmrolle!" und "Boy, oh boy, das gibt ein paar Schnappschüsse fürs Leben!""

Der Schemel

Einer der neuen Menschen unserer Zeit, einer ihrer friedlichen Helden — ob es nun der Steiger Sepp Wenig war oder der Häuer Franik oder ihrer beider Vorbild Hennecke, kann ich nicht sagen, denn die Anekdote, von der hier die Rede ist, wird in jedem Grubenrevier anders erzählt — wurde, als er jungen Bergleuten seine Neuerermethoden erklärte, vom Wißbegierigsten unter ihnen gefragt, was für die Erzielung außerordentlicher Erfolge bei der Arbeit das Wichtigste sei: das Suchen nach immer besseren Methoden, die fortwährende Vervollkommnung der eigenen Fachkenntnisse oder das richtige Verständnis für freiwillige Disziplin und Zusammenarbeit.

Der Gefragte sann nur einen Augenblick lang nach und entgegnete dem jungen Kumpel, indem er ihn ebenso verschmitzt wie aufmunternd anlächelte: "Wenn du einen dreibeinigen Schemel hast — welches Bein ist wohl das wichtigste?"

Nachbemerkung

Die Jahre des Widerstandskampfes gegen den Faschismus und des zweiten Weltkrieges haben in der progressiven Literatur Deutschlands ein bisher vernachlässigtes und mißbrauchtes Genre zu neuen Ehren gebracht — die Anekdote und die Kalendergeschichte.

Die Volksbewegungen im Gefolge der Oktoberrevolution und im Kampf gegen den Faschismus hatten die anonyme Tat und den Heroismus der einfachen Menschen im Gegensatz zu den Handlungen sogenannter großer Männer immer stärker hervortreten lassen. Der antifaschistische Schriftsteller war Chronist, Sammler und Bearbeiter dieser vom Volksmund pointierten und weitergetragenen wahren oder gut erfundenen Episoden, wobei natürlich auch den gut erfundenen Episoden eine gesellschafdiche und politische Wahrheit zugrunde liegen mußte.

So ist auch F. C. Weiskopf zur Anekdote gekommen. In einer Zeit, da der "unterirdische Krieg" nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern die einzige Form des Kampfes sein konnte, in Tausende von Einzelaktionen, anonymen Heldentaten und einsamen Martyrien aufgesplittert, bot der Bericht, die Skizze, die Kurzgeschichte oft die beste Möglichkeit, um der Welt die Untaten der Faschisten und den Widerstandskampf der Antifaschisten vor Augen zu führen. Die Anekdote trat aus dem Bereich des Bildungswitzes und der Histörchensammlung "großer Männer" wieder in die Nähe der "anonymen Volksgeschichte, der Legende und des Volksliedes", nahm die volkstümlichplebejische Tradition der Kalendergeschichte wieder auf, die in Johann Peter Hebels "Schatzkästlein" einst den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatte. Die Zeit war da, so schrieb Weiskopf in der Notiz zur früheren Ausgabe des "Anekdotenbuches", "die Anekdote in ihrer ursprünglichen Bedeutung wiederherzustellen: als pointiert vorgetragene, merkwürdige (das ist des Merkens würdige) Kurzgeschichte, die Vorgänge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermaßen blitzartig erhellt, dergestalt, daß die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustandes präsentiert bekommt".

F. C. Weiskopf hat die Anekdote einmal das "liebste Kind" seines schriftstellerischen Schaffens genannt. Ständig hat er seine Aufzeichnungen neu überarbeitet, ergänzt und gesichtet. Mehrere Ausgaben und Fassungen sind dem eigentlichen "Anekdotenbuch" von 1955 vorausgegangen, das unserem Taschenbuch unter Hinzufügung neuer Stücke — es handelt sich um die letzten 27 Anekdoten, die, überwiegend aus dem Nachlaß, den Grundstock zu einem zweiten, nun unvollendeten Band ("Das andere Anekdotenbuch") bilden sollten — zugrunde gelegt wurde. Sie gehen zurück auf jene erste Sammlung von Skizzen, Berichten und Kurzerzählungen, die in der Schriftenreihe der "Neuen deutschen Blätter" unter dem Titel "Die Stärkeren" 1934 in Prag erschienen. "Episoden aus einem unterirdischen Krieg" waren hier zusammengetragen, Zeugnisse des antifaschistischen Widerstandes und der Hitler-Barbarei in Deutschland, Geschichten, wie sie von der Zeit selbst geschrieben worden waren. Später erfaßte die Sammlung auch andere Bereiche des antifaschistischen Kampfes: Krieg in Spanien, organisierter Widerstand in der Tschechoslowakei oder in Norwegen, französische Resistance, Vaterländischer Krieg der Sowjetunion. Aus den "Stärkeren" waren die "Unbesiegbaren" geworden; sie erschienen 1945 mit dem Untertitel "Berichte. Anekdoten. Legenden. 1933 bis 1945" im Aurora-Verlag, New York. In der fünf Jahre später erscheinenden Ausgabe "Elend und Größe unserer Tage" ist die Konzentration noch stärker geworden, die Hinwendung zur klassischen Anekdote ist vollzogen, was in dem Band "Das Anekdotenbuch" von 1955, bereichert durch neue Thematik aus der Sphäre des amerikanischen Imperialismus, pointierte Kurzberichte aus dem antiimperialistischen Kampf der Völker und aus dem neuen Leben in unserer Republik, auch im Haupttitel zum Ausdruck kam.

Die Anekdote begleitete das Leben eines Dichters, dessen Schaffen stets mit dem politischen Tageskampf verbunden war. Bevor noch die ersten Romane von ihm erschienen, hatte sich Weiskopf als Mitarbeiter an Zeitschriften, als Publizist bereits einen Namen gemacht. Die zweisprachige Herkunft bestimmte seinen Lebensweg. "Ich bin 1900 in Prag geboren", schreibt Weiskopf in einer autobiographischen Skizze. "In meiner Familie wurde nach dem Vater deutsch, nach der Mutter tschechisch gesprochen. Außerdem noch — weil meine Mutter die Französische Revolution, allerdings auch Napoleon bewunderte — viel französisch. Es war eine Familie aus dem alten Österreich. Im letzten Jahr des ersten Weltkriegs wurde ich von der Schulbank weg "einrückend gemacht", wie es im k. u. k. Militärjargon hieß. Beim Militär wurde ich Sozialist, dank einem ungarischen Leutnant, der mir eines Tages eine Broschüre zeigte und fragte: "Kennst du das?" (Es war Marxens "Lohn, Preis und Profit") und der mir, als ich verneinte, den dienstlichen Befehl gab, Marx zu lesen. Schon nach kurzer Zeit brauchte ich keinen Befehl zur Fortsetzung solcher Lektüre. Nach Kriegsende zurück ins Gymnasium, Beteiligung an der Schülerratsbewegung. Universität, erster Kontakt mit der tschechischen Arbeiterbewegung, Diskussionen und Seminare im "Marxisticke Sdruzeni" und in der "Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker", zwei linkssozialistischen Studentenvereinen. Eintritt in die damalige Sozialdemokratie und Anschluß an die Linke innerhalb der Partei. Erlebnis des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei im Jahre 1921."