Kurz entschlossen nahm er ein Bündel Banknoten aus der Panzerkasse, holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr über die große Brooklyner Hängebrücke nach einem der Elendsviertel, der sogenannten Unteren Ostseite, deren Hauptstraße die berühmte Bowery ist.
Es war eine klare, frostige Nacht, und die Sterne über den Schattenrissen der Hochhäuser funkelten wie die Beschläge einer fabrikneuen Packardlimousine. Die billigen Gaststätten der Bowery wimmelten von Gelegenheitshändlern, Arbeitslosen, Bettlern — gestrandeten Existenzen aller Art. O. betrat das erstbeste Lokal, stieg auf einen Stuhl an der Theke und hielt eine Rede. Er sagte, es gehe ihm wider den Strich, seinen Weihnachtstruthahn zu verspeisen, während sich die hier Anwesenden mit einem Gericht Makkaroni für zwei Nickel oder einer Tasse Kaffee und altbackenen Kringeln zufriedengeben müßten; er fordere deshalb seine geschätzten Zuhörer auf, sich an Speisen und Getränken zu bestellen, wonach immer ihnen gelüste; die Zeche gehe auf seine Rechnung.
Das Echo der Rede war anders, als O. sich's gedacht. Einige der Gäste zweifelten laut an seinem Verstand, andere verlachten ihn als schlechten Witzbold oder fühlten sich verhöhnt und begannen zu schimpfen, und jemand drohte ihm sogar mit einer Anzeige. Nicht ein einziger nahm O.s Anerbieten ernst. Es bedurfte längerer Überredung, bis sich drei oder vier bereit erklärten, mit ihm auf die nächste Polizeiwache zu gehen, um sich dort von Amts wegen überzeugen zu lassen, daß die Annahme seiner Einladung zu einem Gratisessen keinerlei versteckte Verpflichtungen einschließe.
Der diensthabende Sergeant hörte sich O.s Ausführungen stirnrunzelnd an. Da er aber in weihnachtlicher Stimmung war und zudem eine aussichtsreiche Partie Pinocle, die er wegen des sonderbaren Besuchs unterbrochen hatte, fortsetzen wollte, entschied er, daß polizeilicherseits nichts gegen das Projekt des Brooklyners einzuwenden sei; im übrigen trage O. selbstverständlich die Verantwortung für alle etwaigen üblen Folgen seines gottverdammten Bewirtungsspleens.
In die Gastwirtschaft zurückgekehrt, wo sich unterdessen den früheren Gästen nicht wenige Neugierige zugesellt hatten, ließ O. auftragen, was Küche und Keller hergaben, und händigte außerdem jedem, der gesättigt vom Tisch aufstand, einen Fünfdollarschein ein.
Als sich herausstellte, daß sein Banknotenvorrat nicht ausreichte, um alle zu beschenken, gab unser von franziskanischer Nächstenliebe überquellender Brooklyner seine Uhr seinen Rubinring, seinen Hut und seinen Seidenschal her, damit niemand leer ausgehe. Die zwei letzten Stücke waren nagelneu; O. hatte sie eben erst von einer Witwe jüngeren Alters und beträchtlichen Vermögens, mit der er eine ernste Bekanntschaft unterhielt, als Weihnachtsgeschenk erhalten.
Sodann setzte er sich auf die Schwelle des Gastlokals und weinte Tränen der Rührung und Zufriedenheit. "Ich wette", sagte er zu einem Zeitungsreporter, der ihn einige Tage später, als sein Fall allgemeine Aufmerksamkeit erweckt hatte, aufsuchte, "jeder andere hätte sich an meiner Stelle genauso aufgeführt; ich fühlte mich wie ein zehnfacher Rockefeller. So wahr mir Gott helfe!"
Der Anblick des Weinenden und die Kunde von seiner Freigebigkeit lockte eine schnell wachsende Menschenmenge an, die bald den Verkehr behinderte, so daß eine Polizeistreife eingreifen mußte; jedoch kam O. mit einem einfachen Verweis davon.
Er fuhr nach Hause, warf sich — nicht so sehr von der durchwachten Nacht wie von den Gefühlswallungen, die er erfahren hatte, ermattet — auf sein Lager und verschlief den Weihnachtstag. Spätabends weckte ihn ein Depeschenbote. Die vermögende Witwe kündigte ihm telegrafisch die Sympathie auf; sie habe es satt, die Feiertage allein zu verbringen, mißbillige aufs schärfste seinen Umgang mit Tagedieben von der Bowery, finde die Art und Weise, wie er gute Dollars gewissermaßen in die Gosse werfe, vor Gott und den Menschen unentschuldbar und ersuche um Rücksendung ihrer Geschenke.
O. gab dem auf Antwort wartenden Boten ein bankpräsidentliches Trinkgeld, schmiß das Antwortformular in den Mülleimer und begab sich mit einem neuen Banknotenbündel wie am Vortage nach der Bowery.
Da die Wirtschaften noch ziemlich leer waren, begann O., langsam die Straße hinunterschlendernd, den ihm begegnenden Passanten, Lungerern und Fuhrleuten Geldscheine anzubieten. Die meisten glaubten, es handle sich um Reklamezettel oder Scherzartikel. Nur ein Alter schien es für nicht weiter verwunderlich zu halten, daß ihm ein Unbekannter für nichts und wieder nichts Geld schenke, und dieser Alte war stockbetrunken.
Allein O. ließ sich durch die Verhärtung der Gemüter, den Zynismus und das Mißtrauen der von ihm Beschenkten keineswegs aus seiner heiteren Geberlaune bringen. Er fuhr vielmehr fort, rechts und links seine grünen Scheine zu verteilen — bis sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte und eine Stimme, deren stiefväterliche Jovialität keinen Zweifel über ihren obrigkeitlichen Charakter übrigließ, ihn zum Mitkommen aufforderte. Bevor er sich dessen versah, saß er schon zwischen zwei beleibten Sergeanten in einem Streifenwagen und rollte zur Polizeihauptwache, wo, wie ihm zwinkernd bedeutet wurde, jemand dringend seiner harre.
Der Jemand war ein Polizeiarzt in weißem Kittel, mit umgehängtem Stethoskop und blitzender Stirnlampe. O. wurde angewiesen, sich der Kleider zu entledigen, was er auch, um nicht als Spielverderber zu gelten, voller bereitwilliger Nachsicht tat. Als sich jedoch die Untersuchung, an die der Arzt unverweilt und mit nicht zu überbietendem Ernst geschritten war, über die Maßen in die Länge zog, bemerkte O., immer noch nachsichtig und heiter, es müsse wohl ein komisches Mißverständnis vorliegen, er sei bei bester körperlicher und geistiger Gesundheit und völlig nüchtern. Der Arzt meinte lächelnd (und es war bei diesem Lächeln, daß O. zum erstenmal spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief), das sei alles schön und gut, aber vorerst einmal solle Jim seine genaue Adresse angeben, dann die Monatsnamen der Reihe nach hersagen, dann drei von elf abziehen, dann mit geschlossenen Augen quer durchs Zimmer gehen und so weiter. O., nachdem er eine geraume Weile hindurch auf alle Wünsche des Arztes eingegangen, fand schließlich, daß es genug sei, und weigerte sich, an dem Theater, wie er es nannte, weiter mitzuwirken. Daraufhin ließ ihn der weiße Kittel, der wohl nur auf eine solche Gelegenheit gelauert hatte, kurzerhand abführen.
Die nächsten zwei Tage verbrachte unser Freund auf der psychiatrischen Beobachtungsstation des Bellevue-Hospitals; er sollte gerade, als hervorragend interessanter Fall, einer größeren Studienkommission vorgeführt werden, als es den Bemühungen eines befreundeten Nudelfabrikanten mit einflußreichen Verbindungen gelang, ihn freizubekommen.
Endlich wieder daheim, mußte er zu guter Letzt auch noch die Entdeckung machen, daß Einbrecher seine Abwesenheit dazu benutzt hatten, die Panzerkasse zu knacken. Ein anderer wäre durch solche Erlebnisse zweifellos zum erklärten Menschenfeind geworden. Nicht so Jim O. Als ihn der bereits erwähnte Zeitungsberichterstatter fragte, ob er nach dem, was ihm widerfahren, von berechtigter Bitterkeit erfüllt sei, entgegnete der Brooklyner, indem er leise den Kopf schüttelte: "Ich bin, ich kann es nicht leugnen, einigermaßen abgebrüht, was Zechprellerei und ähnliche faule Tricks angeht. Man steht schließlich zehn Jahre hinter der Theke, und ein Billardsalon ist, weiß Gott, keine Sonntagsschule. Mit meinen Erfahrungen müßte ich eigentlich der kaltschnäuzigste und hartherzigste Kerl unter der Sonne sein. Aber ich bin's nicht. Es ist mir einfach nicht gegeben. Sanftmut war seit je meine andere Natur. Außerdem", fügte er nach einer Minute versonnenen Schweigens hinzu, "außerdem bin ich gegen Einbruch und Verdienstentgang bei der Mutual Indemnity Insurance Company versichert."