B… befolgte den Rat, die Schlinge zu benutzen, nicht. Auch nicht, als er nach der ersten Visite des Kommandos z. b. V. schon aus mehreren Kopfwunden blutete, und auch nicht, als er nach einem zweiten und dritten Besuch mit einer abgeschlagenen Niere und ausgestoßenen Zähnen auf dem Boden lag. Da wurde ihm am Abend die Leiche seines Freundes D… der mit ihm zugleich ins Lager eingeliefert worden war, in die Zelle geworfen: zur gefälligen Danachachtung, wie der Wachkommandant bemerkte, und mit der dringenden Mahnung, den Strick nicht länger als bis zum Morgen unbenutzt zu lassen. Welcher Mahnung der Gefangene denn auch pünktlich, wiewohl auf eine ganz unvorhergesehene Weise, nachkam. Fand doch der inspizierende Truppführer, als er gegen Morgen die Zelle betrat, zwar wie erwartet den Strick an eine Stange des Fenstergitters geknüpft, doch hing er nach außen, nicht nach innen, und die Schlinge war leer. Der Gefangene war mit Hilfe des Kälberstricks geflohen.
Das erschossene Schweigen
Im Konzentrationslager P… bei R… im Braunschweigischen erfuhren die Gefangenen, vierhundert Arbeiter aus der Stadt Braunschweig, nur durch einen Zufall, daß Clara Zetkin — die viele von ihnen von Angesicht gekannt hatten und deren letzte, schon im Schatten des Todes gesprochene Reichstagsrede ihnen allen noch gegenwärtig war — vor einer Woche gestorben und in Moskau an der Kremlmauer neben dem Grabmal Lenins bestattet worden sei.
Sie waren sich sogleich darüber einig, daß sie das Andenken der Toten ehren wollten, sie wußten nur nicht wie, und es dauerte einen ganzen Tag, bevor sie zu dem Beschluß kamen, zum Zeichen der Trauer und der Treue den folgenden Tag über kein einziges Wort zu sprechen.
Der Beschluß wurde auf das genaueste durchgeführt, obwohl die Wachmannschaften nichts unversucht ließen, um die Gefangenen, wie sie es nannten, zur Vernunft zu bringen. Nicht einmal der Lagerkommandant, ein Kapitänleutnant a. D., den eine vieljährige erfolgreiche Führerlaufbahn bei den baltischen und oberschlesischen Freikorps, in der Schwarzen Reichswehr und bei der SS eigentlich dazu hätte befähigen müssen, vermochte den Willen der Gefangenen zu brechen. Alles, was er erzielte, war, daß am Spätnachmittag zweiundzwanzig Häftlinge wegen gefährlicher Blutergüsse in die Lazarettbaracke geschafft werden mußten.
So stark war die Wirkung, die von dem Schweigen der Vierhundert ausging, daß nach dem Abendbrot, dessen erster Gang — eine wässerige Graupensuppe — allerdings strafweise gestrichen wurde, so daß die Gefangenen diesmal nur den zweiten Gang, das Horst-Wessel-Lied, verabreicht bekamen, der Lagerkommandant die Posten verdoppeln und die Maschinengewehre auf den Wachttürmen schußfertig machen ließ.
Die Nacht verbrachten SS-Leute, Offiziere und der Kommandant schlaflos, in Stiefeln und Kleidern — ständig mit der Furcht vor einem unheimlichen, jählings über sie hereinbrechenden Unheil im Nacken.
Gegen Morgen ließ der Kapitänleutnant, sei es, daß ihn plötzlich die Furcht übermannte, sei es, daß er sie dadurch zu überwinden glaubte, drei Häftlinge, einen alten Metalldreher, von dem man wußte, er sei schon im Jahre 1917 Spartakist gewesen, und zwei junge Arbeiter, in deren Wohnungen man Flugblätter der Kommunisten gefunden hatte, von den Pritschen holen und, da sie auch vor den Gewehrläufen des Kommandos zur besonderen Verwendung stumm blieben, "auf der Flucht" erschießen.
Dieses hat sich im ersten Jahr des Hitlerschen "Tausendjährigen Reichs", zwölf Jahre vor seinem Fall, zugetragen.
Auf den Hund gekommen
Als die Verbündeten bei ihrer letzten siegreichen Offensive im Frühjahr 1945 auf eines der kleinen und wenig bekannten Konzentrationslager in Mitteldeutschland stießen, fanden sie am Lagereingang eine Hundehütte, aus der ihnen ein seltsam klingendes heiseres Gebell entgegenschallte. Es ergab sich, daß der Hund in der Hütte kein Hund, sondern ein Gefangener — ein ehemaliger Stadtrat der Goethe-Stadt Weimar — war. Die Nazis hatten ihn seit zehn Jahren gezwungen, auf allen vieren herumzulaufen, aus einem Trog zu fressen und die Vorbeikommenden anzubellen, bis er schließlich verlernte, aufrecht zu gehen und wie ein Mensch zu sprechen… als hätten sie es darauf angelegt, der Welt zu beweisen, daß unter ihrer Herrschaft die Menschenwürde, das Menschenrecht und vor allem der deutsche Name schlechterdings auf den Hund kommen mußten.
Welcher Art Zuversicht
Ein junger Malaie, in Singapur beim Ankleben von Flugzetteln der Freiheitsarmee gefaßt und vor ein britisches Kolonialgericht gestellt, antwortete auf die Frage des Richters, eines sicheren Sir Malcolm Whitebait, dessen Name uns ein Berichterstatter der "Straits Settlements Times", dem wir die Kenntnis des ganzen Vorfalls verdanken, überliefert, während er den Angeklagten, da es sich um einen Farbigen handelt, bloß mit dem Gattungsnamen "ein Eingeborener" bezeichnet — der junge Malaie also antwortet auf die Frage, ob er wisse, welches Urteil ihn erwarte: Jawohl, dasselbe, das er in wenigen Jahren schon über den Richter zu sprechen gedenke.
Sir Malcolm, durch die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der die Antwort gegeben wird, fast noch mehr beunruhigt und in Zorn versetzt als durch ihren Inhalt, vergißt sich so weit, daß er, entgegen aller Sitte und Tradition von seinem Stuhl hochfahrend, den Eingeborenen anschreit: "Und was, wenn ich dich erschießen lasse, du Schuft?"
Worauf der Malaie mit der gleichen Ruhe wie vorher, ja sogar lächelnd erwidert: "Dann wird das Urteil über Euer Ehren eben von einem meiner Brüder verhängt werden; alle von uns könnt ihr ja doch nicht erschießen lassen, denn von wessen Schweiß und Blut würdet ihr sonst leben in diesem Lande?"
"Widernatürliche Zuversicht" überschreibt der Zeitungsmann, der im übrigen nichts weiter über das Schicksal des Angeklagten mitzuteilen für nötig hält, seinen Bericht. Als ob es in unseren Tagen das Natürliche wäre, am Sieg der Freiheit zu zweifeln und auf die Bestrafung ihrer Würger zu verzichten!
Das Chodengrab
Im oberen Böhmerwald, an den Wegen, die von der Stadt Taus über die bewaldeten Paßhöhen ins Bayrische führen, liegen die Dörfer der chodischen Bauern, deren Vorfahren hier, unter der Fahne mit dem Hundskopf, die Grenzwache des Königreiches Böhmen stellten.
Als an einem Novembertag des Jahres 1938 bekanntwurde, daß auch das Chodenland von der tschechischen Heimat losgerissen und zum Dritten Reich geschlagen werden solle, und das schon am nächsten Morgen, bemächtigte sich der chodischen Bauern eine bittere, zornige Erregung. Beim Klang der Kirchenglocken versammelten sie sich in den Dörfern und Weilern zwischen dem Berg Cerchow und den Babyloner Teichen: Junge und Alte, Männer und Frauen. Die meisten in den bunten Trachten, die sich kaum geändert haben seit den Tagen, in denen die Freibauern des Chodenlandes — die Hundsköpfe — ihre Rechte und Freiheiten gegen die adligen Herren verteidigten, während das übrige Landvolk zu beiden Seiten der Böhmerwaldkette schon längst leibeigen war.