Von allen Kirchtürmen dröhnten die Glocken, als die Bürgermeister den Versammelten vorlasen, daß die Einverleibung des Gebietes kraft freiwilliger Vereinbarung und im Geiste einer friedlichen Neuordnung erfolge, und was dergleichen mehr von den Hitlerschen in den erpreßten und erschwindelten Münchner Vertrag hineingeschrieben worden war. Es hatte aber seit Menschengedenken zwischen den Bayern auf der einen und den Choden auf der andern Seite der alten Grenze keinen größeren Streit gegeben, der eine Neuordnung notwendig gemacht hätte; und erst seit ihrer Einführung wuchs im Chodenland die Saat eines unversöhnlichen Hasses gegen den deutschen Eindringling und Bedrücker.
Die Verlesung des Grenzvertrages wurde stehend angehört, dann jedoch knieten alle nieder und sangen gemeinsam das alte Hussitenlied "Die ihr Gottes Streiter seid". Auch schworen sie, weder ihre Sprache noch ihre Freiheit je zu vergessen und in steinerner Ruhe auf den Tag zu warten, der das Verlorene wiederbringen würde.
Als am nächsten Morgen die Vortruppen des Reichsheeres in die chodischen Dörfer einmarschierten, fanden sie die Gassen leer, die Hoftüren verschlossen, die Schornsteine rauchlos und die Kirchenglocken ohne Klöppel. So unheimlich erschienen den Soldaten die Siedlungen, daß der Gesang auf ihren Lippen erstarb. Die Bevölkerung wurde nicht, wie ursprünglich geplant, dazu verhalten, Fahnen auszuhängen und die Häuser mit Grün zu schmücken. Nur in Klenec, dem Hauptort des Chodenlandes, ließ der Kommandeur des einmarschierenden Truppenteils den Bürgermeister durch eine Patrouille holen und befahl ihm, das Gemeindeamt zu beflaggen. Der Bürgermeister ging und bängte die Hundskopffahne aus. Er wurde sofort verhaftet und abgeführt. Als ein Feldwebel die Fahne entfernen wollte, erschien plötzlich auf dem Balkon, an dem der Flaggenstock befestigt war, die Mutter des Bürgermeisters, eine Frau von mehr als neunzig Jahren, riß das Fahnentuch an sich und rief über den Markt, auf dem sich unterdessen eine große Menschenmenge versammelt hatte: "Laßt mir die Fahne, ich will mir daraus mein Leichenhemd machen!" Nach diesen Worten brach sie zusammen.
Die Menge unten kniete nieder wie am Vortage und stimmte das Lied von den Gottesstreitern an, doch kaum hatte der Gesang begonnen, als vom Kommandeur der deutschen Truppe Befehl gegeben wurde, den Platz zu räumen. Einige Bauern, die nicht schnell genug gehorchten, wurden niedergeschlagen, andere verhaftet. Auch die Mutter des Bürgermeisters sollte gefangengesetzt werden, doch stellte sich heraus, daß sie tot war. Ihre Finger hatten sich so fest in das Tuch der Fahne gekrallt, daß Gewalt angewandt werden mußte, um den Griff zu lösen.
Das Begräbnis fand, auf Anordnung der Gestapo, in aller Heimlichkeit statt; den Verwandten wurde verboten, das Grab durch einen Stein oder sonstwie zu schmücken. Allein schon am nächsten Tage lagen Blumen auf dem Hügel. Nun wurde ein Doppelposten vor dem Grab aufgestellt. "Die Nazis mußten der Alten eine Ehrenwache bewilligen!" flüsterten sich die Leute in Klenec zu, und aus allen andern chodischen Dörfern kamen die Bauern und Bäuerinnen, um der Toten die Ehre zu erweisen. Daraufhin ließ die Gestapo den Sarg ausgraben und wegschaffen; der Hügel wurde glattgestampft; der Gemeindetrommler mußte bekanntmachen, was geschehen war. Dabei brachen ihm, zufällig oder weil er so wütend auf das Kalbfell schlug, beide Schlegel. Seit jenem Tag, so geht die Rede in den chodischen Dörfern, streifte die Alte im Lande umher und schürte den Haß und wartete auf den Tag, da sie sich wieder in ihr Grab legen konnte auf freiem chodischem Boden.
Der Flohzirkus
Francois-Marie Dudillier, ein etwas heruntergekommener Pariser Bürger, der sich in seiner Jugend als Maler und Photograph, späterhin als Besitzer eines Flohzirkus fortgebracht hatte, schien weder durch seine Veranlagung noch durch sein Äußeres — er hatte eine Gurkennase und war schwach auf den Beinen — dazu vorherbestimmt, als Held zu enden. Und wenn er, durch irgendein Wunder wieder zum Leben erweckt, darüber befragt werden könnte, ob er sich für einen Helden gehalten, so ist eins gegen zehn zu wetten, daß er mit dem gleichen Wörtchen "merde" antworten würde, das er den SS-Leuten entgegenschleuderte, als sie ihn an einem Frühlingsmorgen des Jahres 1943 zu seinem letzten Gang abholten.
Dudillier hatte sich nie um die Ereignisse in der großen Welt gekümmert. Den Krieg schien er mehr für eine Störung als für ein Unglück zu halten, und auch nach der Besetzung von Paris durch die Deutschen versuchte er, sein Dasein in der altgewohnten Weise fortzuführen. Gleichwohl mußte auch in ihm ein Funken jener stolzen Flamme glühen, die nach dem Zusammenbruch Frankreichs in den Herzen seiner besten Söhne hochgeschlagen ist, denn die Nachbarn fanden eines Tages die Bude, in der Dudilliers Flohzirkusvorstellungen stattfanden, geschlossen. An der Türe klebte ein Zettel mit der Mitteilung, daß Dudillier nicht mehr imstande sei, seine Flöhe zu ernähren, weil die Nazis den Franzosen auch das letzte Tröpfchen Blut aussaugten; daran war die Aufforderung geknüpft, die frechen Eindringlinge aus dem Lande zu jagen.
Dudillier wurde als aufrührerisches Element verhaftet, in das Besatzungsgefängnis von Vincennes gebracht und bei der ersten Gelegenheit als Geisel erschossen.
Land des Lächelns
Als in der Connecticut Avenue, der elegantesten Geschäftsstraße von Washington, ein aus dem zweiten Weitkrieg erblindet und mit stark verstümmeltem Gesicht zurückgekehrter Invalide auftauchte, der geklöppelte Spitzen eigener Erzeugung feilbot, erregte er ebensoviel unliebsames wie wohlgefälliges Aufsehen — letzteres dank einem metallenen Brustschild, das mit zwei Sternenbannern, dem Wappen der "Handelskammer für jüngere Kaufleute", und der Inschrift: "Es hätte auch schlimmer kommen können!" geschmückt war.
Von einem Berichterstatter der Zeitung "Star" befragt, auf welche Weise er es fertigbringe, sich mit soviel Humor über sein Unglück zu erheben, wußte der Invalide zunächst nicht, was er antworten solle, und verwies den Reporter schließlich an einen gewissen MacLaughlin, seines Zeichens Juniorchef eines Bestattungsunternehmens und Vorstandsmitglied der Handelskammer, von dem er das Schild bekommen habe: der könne sicher die gewünschte Auskunft erteilen.
Das konnte MacLaughlin in der Tat. Nachdem er sich als Vater der ganzen Idee zu erkennen gegeben, erklärte er dem Zeitungsmann, daß die Kammer das bewußte Brustschild in etwa zweihundert Exemplaren habe anfertigen und an alle durch ihre Kriegsverletzungen am richtigen Lächeln gehinderten Straßenhändler verteilen lassen, um sie trotz ihrer Behinderung instand zu setzen, das erste und wichtigste Gebot des Dienstes am Kunden: "Keep smiling — Lächle ohne Unterlaß!" wenigstens indirekt, nämlich durch Hervorrufung eines Schmunzeins beim Käufer, zu erfüllen.
Das Mark der Ehre
Im Sommer 1938 kehrte aus Spanien, wo er zuerst in der Armee des Generals Franco und später, als ihm die Augen aufgegangen waren, in den Reihen des Volksheeres gekämpft hatte, der Student Franz Josef Günther in seine nordböhmische Heimat zurück. Von der ersten Stunde an verfolgten ihn seine früheren Kameraden aus der Sudetendeutschen Partei mit einem wilden Haß, und er entging nur wie durch ein Wunder den Anschlägen der geheimen SS, die in Günthers Heimatort von seinem eigenen Bruder geführt wurde. Dennoch half Günther, als nach dem mißglückten Henlein-Putsch im September viele der Aufständischen dem Beispiel ihres sofort über die Landesgrenze geflüchteten Führers folgten, den zurückgelassenen Frauen und Kindern und bürgte insbesondere für die Braut seines Bruders. Als aber kurz darauf das Sudetengebiet von reichsdeutschen Truppen besetzt wurde, mußte er bei Nacht und Nebel ins Tschechische flüchten, weil anders ihn die Gestapo verhaftet und in ein Konzentrationslager geschafft hätte.