Er kam bei Freunden in Prag unter, und er hätte nicht zu klagen gehabt, wäre nicht das Heimweh gewesen, das an ihm zehrte wie eine Krankheit. Mehrmals konnten ihn die Freunde nur mit Mühe davon abhalten, heimlich in die verlorene Heimat zurückzukehren. Als er jedoch einen Brief von seinem Bruder erhielt, worin es hieß, das Vergangene solle vergessen sein und das großdeutsche Vaterland öffne allen verirrten Volksgenossen großmütig seine Tore, gab es für Günther kein Halten mehr. Entgegen den dringenden Vorstellungen der Freunde reiste er noch in der gleichen Woche ab, nachdem er zuvor den Bruder von seinem Entschluß, zurückzukehren, verständigt hatte.
Der Bruder erwartete ihn an der Zollschranke des Grenzortes. Er trug die Uniform eines SS-Führers, um, wie er sagte Franz Josef ein Gefühl besonderer Sicherheit zu geben. Arm in Arm begaben sich die Brüder in das Zollhaus, von dessen Vorderfront ein eichenlaubumkränztes Schild verkündete-"Ein Volk, ein Reich, ein Führer — die Treue ist das Mark der Ehre!"
Kaum hatte Günther die Schwelle überschritten, wurde er von einem Kommissar der Geheimen Staatspolizei verhaftet. Sein Bruder führte beim Verhör den ersten Schlag gegen ihn. Als Schwerverletzter, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wurde Franz Josef Günther am nächsten Tag in das Krankenhaus von Komotau eingeliefert. Der Chefarzt erhielt von der Gestapo strenge Weisung, den Halbtoten scharf bewachen zu lassen, weil das Krankenhaus in diesem Falle nur die Durchgangsstation zum Konzentrationslager darstelle. Ein Wärter und eine Krankenschwester hielten abwechselnd Wache an Günthers Bett. Trotzdem gelang es ihm, der Gestapo auf seine Art zu entkommen. Als die Krankenschwester für eine kurze Zeit übermüdet einnickte, schnitt Günther sich die Pulsadern auf. Mit dem Blut schrieb er auf die Platte des Nachtkästchens: "Die Treue ist das Mark der Ehre."
Ruhm
Als der Leutnant Charles P. Hill, Pilot eines von koreanischen Scharfschützen über dem Moranbongebirge zur Strecke gebrachten Jagdflugzeuges, gefragt wurde, warum er eine vor ihrer Schule zur Maifeier versammelte Kinderschar beschossen habe, entgegnete er nach einigem Zögern und Schlottern, dies sei geschehen, weil er sich irgendwie habe auszeichnen wollen. Unter den Papieren Hills, die aus den Trümmern des Flugzeuges geborgen wurden, fand sich ein nicht zu Ende geschriebener Brief an seine Braut, worin es hieß: "Ich beneide den Obersten Lewis um den Ruhm, die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen zu haben, und ich wünsche mir sehnlich, einer ähnlichen Ehre teilhaftig zu werden, sowie die Zeit für die Wasserstoffbombe gekommen ist."
Von Ruhm und Ehre war auch in einem Gespräch die Rede, das ein mir bekannter Pekinger Schriftsteller an der Front in Korea mit einem Landsmann führte, einem Bauern aus Ssetschuan, der sich zu den Volksfreiwilligen gemeldet hatte. Der Ssetschuaner kauerte, als mein Gewährsmann ihn ansprach, in einem notdürftig mit dürren Zweigen gedeckten Unterstand und aß Maisbrei aus einer verbeulten Konservendose. Auf die Frage, wie es ihm gehe, erwiderte er: "Schlecht, wie du siehst. Ich sitze in diesem nassen Loch, fern von meiner sonnigen Heimat, meiner Frau und meinen zwei kleinen Söhnen. An den Schuhen habe ich statt der Sohlen nur Fetzen, meinen Mantel hat ein verwundeter Genosse bekommen, und dieser kalte Brei ohne Salz ist meine erste Mahlzeit seit gestern mittag… Aber", so fügte er hinzu, "ich habe auch nichts Besseres erwartet. Und ich bin hier, damit künftighin Väter nicht mehr ihre kleinen Söhne verlassen müssen, um in den Krieg zu ziehen; damit niemand mehr in einem solchen Schützenloch zu hocken braucht, anstatt nützliche Arbeit zu leisten; und damit sich jeder Mensch guten Willens an jedem Tag seinen Magen füllen kann, nicht nur mit ungesalzenem Maisbrei, sondern mit Reis und Schweinefleisch und Bambussprossen und wonach er sonst noch Verlangen trägt."
Als der Schriftsteller wissen wollte, ob der andere einen besonderen Wunsch habe, sagte dieser: "Nicht, daß ich wüßte… oder doch, ich möchte mir aus diesem Feldzug soviel nach Hause mitbringen." Dabei hob er seine Rechte und formte mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Kreis.
"Das verstehe ich nicht", meinte der Schriftsteller, "das mußt du mir erklären!"
"Was ist da viel zu verstehen und zu erklären?" lautete die Antwort. "Ich wünsche mir eine Gedenkmedaille, auf der steht: er war mit dabei, als die Unabhängigkeit seines Volks und der Friede der Welt verteidigt wurden."
Tomatensalat
Im Winter 1934 trafen sich des öfteren in einer abgelegenen Riesengebirgsbaude Genossen aus dem Reich und Genossen aus dem Böhmischen. Die einen brachten Nachrichten, die andern Zeitungen und Flugschriften. Man blieb nur eine Nacht beisammen, aber in den wenigen Stunden wurde viel gesprochen. Eine der Geschichten habe ich aufgeschrieben. Der sie erzählte, war ein junger sächsischer Textilarbeiter.
Hier ist sie:
"Was hatten wir uns nicht bemüht, unter den Arbeitsdienstlern des Lagers M…, wo der Drill besonders scharf und das Essen besonders schlecht war, eine Protestkundgebung zustande zu bringen. Vergeblich. Die Jungen, halbverhungerte Arbeitslose und angehende Studenten, mißtrauten einander zu sehr, und die Lagerleitung kämmte die Mannschaft immer wieder durch, sowie sie den geringsten Verdacht schöpfte. Bis sich die Sache mit dem Tomatensalat ereignete. Sie wäre freilich wie das Hornberger Schießen ausgegangen, wenn wir nicht den kleinen L. unter uns gehabt hätten. So aber ging sie gut aus.
Also eines Morgens stand auf dem Schwarzen Brett: "Abendessen: Tomatensalat mit Wurst" Wahrscheinlich hatte der Küchenbulle dieses Gericht bloß deshalb auf den Speisezettel gesetzt, weil ausländischer Journalistenbesuch angesagt war, denn als sich herausstellte, daß die Zeitungsleute nur das Nachbarlager besuchen würden, gab es wie gewöhnlich Mehlsuppe und Kartoffeln in saurer Tunke; und wahrscheinlich wären wir nach einigem Gemurre soweit gewesen, das Essen wie gewöhnlich herunterzuwürgen, hätte den Bullen nicht der Teufel geritten. Er beschwerte sich beim Lagerleiter über die Unzufriedenheit der Mannschaft, und der Alte ließ daraufhin die Züge strafweise antreten und hielt uns eine Standpauke. Was uns eigentlich einfalle, fragte er, vor der Front stehend, und spielte mit seiner Reitgerte.,In der Stadt wäret ihr verhungert, Lumpengesindel. Seid froh, daß man euch zu Menschen macht! Ihr habt Licht, Luft, Sonne, Essen und noch zwanzig Pfennig am Tag. Das ist mehr, als ihr Tagediebe verdient!" Damit ließ er uns wegtreten, doch zeigten wir uns dabei zu schlapp, vielleicht schien es ihm auch nur, daß wir sein Kommando nicht schneidig genug ausführten, kurz, er pfiff uns neuerdings zusammen und hetzte die Abteilung so lange rund um die Baracken, bis jedermann die Zunge heraushing. Dann befahl er:,SingenP Zuerst schwiegen alle, doch als er drohte, uns bis zum nächsten Morgen um das Lager herummarschieren zu lassen, wenn nicht gesungen würde, begannen die ersten Reihen mit dem Lied: "Annemarie, wo geht die Reise hin?", nur daß zwischendurch, statt des richtigen Kehrreims, gegrölt wurde: "Mein Sohn ist Arbeitsdienstler, Annemarie! Er ist ein Hungerkünstler, Annemarie!"
Da unterdessen Leute aus der Stadt am Drahtzaun stehengeblieben waren, um zuzuhören, schickte uns Schweinebauch — so nannten wir den Lagerleiter unter uns — schnell in die Baracken. Aber am nächsten Tag, verhieß er, sollten wir dafür Blut und Eiter schwitzen.
Am Morgen stand mit großen Buchstaben auf dem Schwarzen Brett: "Wir schwitzen Blut und Eiter, aber unsern Tomatensalat frißt der Küchenbulle!" Alle stauten sich davor, und der Diensthabende brachte erst Ordnung in die Züge, nachdem er versprochen hatte, daß es mittags wirklich Tomaten geben werde. Allein anstelle der Tomaten bekamen wir nur ein paar halbwelke Salatköpfe auf den Tisch. Jetzt begannen ganze Gruppen im Chor zu rufen: "Tomaten! Tomaten!" Und als der Alte gelaufen kam, schrie jemand: "Wir haben Licht, Luft, Sonne — aber unsere Tomaten frißt der Bulle!" Es setzte Strafexerzieren, die Urlaube wurden gesperrt, und niemand sollte mehr Ausgangserlaubnis kriegen. Auch gab es abends nur Bohnen, und die waren dumpfig.