Die Jungen waren erbittert wie noch nie. Jemand schlug vor: "Wir rücken morgen einfach nicht aus!" Aber die meisten hatten Angst, die Lagerleitung werde sie wegen Befehlsverweigerung ins KZ stecken. Und so schien es, als würde die Wut verpuffen: viel Geschrei und wenig Wolle. Da sagte der kleine L., von dem wir eigentlich nicht sehr viel hielten, weil er immer geraten hatte, man müsse die Jungen "am Magen packen": "Gut, Kameraden, rücken wir morgen aus wie alle Tage, aber arbeiten wir nur so rasch, wie unsere Suppe gut ist!" Alle lachten, aber keiner war dagegen, und als wir am nächsten Vormittag auf der Baustelle waren, schaufelten wir die Loren nur halb voll und ließen auch bloß sechzehn abrollen statt zweiunddreißig. Der Lagerleiter machte Krach und drohte mit dem Entzug der Löhnung, aber das hatte nur zur Folge, daß die Loren plötzlich Kreideaufschriften trugen: "Ohne Tomatensalat hab ich keine Kraft!" oder,Ich laufe nur richtig, wenn ich richtig Tomaten zu futtern kriege!" und darunter war eine Schnecke gemalt.
Wir mußten nach dem Abendessen strafexerzieren, drei Stunden lang, doch die Namen der "Rädelsführer" bekam Schweinebauch nicht heraus.
Am nächsten Tag waren die Loren wieder nur halb voll, und es stand auf ihnen: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz — aber Tomaten kriegt nur die Leitung!" Schweinebauch ließ uns so lange in der prallen Sonne strammstehen, bis einige umfielen und in die Lazarettbaracke geschafft werden mußten. Dann bekam jeder zehnte Mann Arrest. Aber niemand verriet etwas. Auf den Loren stand: "Unsere Ehre ist Treue" verpfiffen wird niemand!"
Am Abend kam ein Fahndungskommando der SS und durchsuchte alle Spinde und Koffer. Jeder von uns wurde einzeln verhört, doch es kam nichts heraus. Als das Fahndungskommando unverrichteterdinge abzog, baumelte vom Torbalken herab eine halb verfaulte Tomate.
Drei Tage später wurde das Lager aufgelöst."
Das Mittagsbier
Ein ganzes Jahr lang lieferte die unter schärfster Gestapobewachung stehende Brünner Waffenfabrik Haubitzenrohre, die entweder schon beim Probeschießen oder an der Front nach wenigen Schüssen außer Dienst gestellt werden mußten.
Die Nazis, denen es weder durch Drohungen noch durch Spitzelei gelingen wollte, in Erfahrung zu bringen, wie diese Sabotage — denn um nichts anderes konnte es sich handeln — bewerkstelligt wurde, gelangten schließlich durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle auf die richtige Spur.
Der Trick, mittels dessen die Rohre unbrauchbar gemacht wurden, war ebenso einfach wie sinnreich. Die Arbeiter spritzten bei ihrem Mittagsimbiß, den sie wegen der von den Nazis verfügten Kürzung der Arbeitspause in den Werkstätten selbst einnahmen, jedesmal ein wenig Bierschaum auf die weißglühenden Kanonenläufe, woraufhin der Stahl, da er durch ungleichmäßiges Auskühlen seine Elastizität einbüßte, dem Druck der Abschußgase nicht mehr gewachsen war.
Der leitende Gestapokommissar ließ ein halbes Hundert Arbeiter erschießen und die doppelte Anzahl in die Konzentrationslager von Oslavan und Dachau schaffen, aber er wußte, und auch die Kameraden der Erschossenen wußten: gefährlicher als das auf die glühenden Haubitzenläufe gespritzte Mittagsbier war der Umstand, daß jeder einzelne der nahezu neuntausend Mann starken Belegschaft von diesem Geheimnis Kenntnis gehabt und es, aller Gefahr zum Trotz, bei sich behalten hatte.
Der letzte Wunsch
Bei der Hinrichtung von vier Altonaer Arbeitern, die — bald nach Hitlers Machtantritt — zum Tode verurteilt worden waren, weil sie sich gegen schießende SA-Männer mit Schüssen gewehrt hatten, kam es zu einem Zwischenfall, von dem noch lange in allen Hafenkneipen, Fabrikkantinen und Mietskasernen Hamburgs gesprochen wurde.
Als man unmittelbar vor der Hinrichtung, zu der fünfundsiebzig Gefangene aus ihren Zellen geholt wurden, um das Sterben ihrer Genossen mit anzusehen, den jüngsten der Verurteilten, einen Neunzehnjährigen, fragte, ob er noch einen Wunsch habe, sagte er: Ja, den habe er, er wolle sich noch einmal richtig recken, man möge ihm doch die Handfesseln lockern.
Der Wachtmeister nahm ihm die Eisen ab. Der junge Arbeiter reckte sich. Mit zum Himmel erhobenen Fäusten stand er einen Augenblick still da; dann schlug er blitzschnell, bevor noch die Umstehenden begriffen, was vorging, dem SA-Führer, der die Wachmannschaft kommandierte, die Vorderzähne ein.
Das Wort eines Gentleman
Als oppositionelle Abgeordnete im britischen Unterhaus den Fall des Obersten Ewart Grogan zur Sprache brachten, der in seinem Bericht an den Gesetzgebenden Rat der Kolonie Kenya empfohlen hatte, weiterhin Häftlinge des Konzentrationslagers Thomson Falls öffentlich, in Bündeln zu fünfundzwanzig Stück, hängen zu lassen, um ihren — gegen den Raub von Land und Menschen durch die weißen Pflanzer rebellierenden — Brüdern vom Stamme der Kikuyuneger eine Lehre zu erteilen, erhob sich der Kolonialminister, Sir Oliver Littleton, und erklärte mit der Miene gekränkter Unschuld: Erstens entspreche die Nachricht über angebliche Greuel in Thomson Falls keineswegs der Wahrheit; zweitens habe der Gouverneur von Kenya bereits aus eigenem gewisse vereinzelte Übergriffe der Lagerleitung abgestellt; und drittens sei, ohne daß es erst einer Anfrage der Opposition bedurft hätte, vom Kolonialministerium eine Untersuchung der Angelegenheit angeordnet worden. Allfällige Unzuträglichkeiten und Mißstände würden, darauf gebe er dem Hohen Hause sein Wort als Gentleman, sofort und unnachsichtig gesühnt werden.
In der Tat wurde, wie einer späteren Mitteilung des Kolonialministeriums zu entnehmen ist, der Oberst Grogan seiner Funktion als Vorgesetzter der Lagerleitung von Thomson Falls enthoben; er hat jetzt die Aufsicht über die Polizei in den Reservationen der Kikuyus. Auch müssen hinfort die Exekutionen in Thomson Falls einzeln und auf einem dafür entsprechend hergerichteten Platz — das ist hinter einem mindestens fünf Fuß drei Zoll hohen Bretterzaun — vorgenommen werden.
Ein Brief
Genossen, ich habe Euch eine Mitteilung zu machen. Sie betrifft meinen Bruder Martin H…, von dem Ihr wißt, daß er der Geheimen Staatspolizei eine große Zahl guter Genossen ausgeliefert hat.
Eigentlich müßte ich Euch aufsuchen. Mündlich ließe sich viel besser berichten, wie alles gekommen ist und was sich gestern ereignet hat, aber das geht nicht, weil ich Euch nicht gefährden darf und auch, weil ich, für die nächste Zeit wenigstens, verschwinden muß, nach dem, was gestern geschehen ist.
Deshalb schreibe ich diesen Brief. Ich will damit beginnen, wie Martin zum Spitzel gepreßt worden ist. Er ist es nur geworden, weil die Gestapo ihn dazu gemacht hat, auf eine Weise, die ich leider nur sehr unvollkommen schildern kann — aber ich glaube, auch diese unvollkommene Schilderung genügt: nicht um Martin zu entschuldigen, das soll und kann nicht geschehen, sondern nur um den Fall klarzustellen und aus ihm zu lernen.
Wie Ihr wißt, konnte Martin nach dem Reichstagsbrand sich nicht mehr in seinem Bezirk halten, er war dort viel zu bekannt. Er verzog nach R…, wo er die ersten illegalen Flugblätter herstellte und die unterirdische Presse organisierte. Als einige führende Genossen im Nachbarbezirk verhaftet wurden, übernahm er auch dort die Leitung der Zeitungsarbeit. Es klappte alles sehr gut, bis die Geheimdruckerei in der S… Straße aufflog und daraufhin die Massenhaussuchungen einsetzten. Martin ist damals mit knapper Not der Verhaftung entgangen, aber sie kannten ihn seitdem und waren ständig hinter ihm her. Trotzdem hätte er sich noch eine ganze Weile halten können, wenn er nicht von einem ehemaligen Schulkameraden verpfiffen worden wäre.