»Ja, stimmt«, sagte ich lakonisch. »Und was folgt als Nächstes? Kommen jetzt Beine und Arme? Nasen und Ohren?«
Aber während ich diese Worte laut aussprach, dachte ich etwas ganz anderes. Ich erinnerte mich daran, was Jane mir vor nur ein oder zwei Stunden am Telefon gesagt hatte: Ein Navaho-Spruch, den ich nicht aussprechen kann, der aber etwa so viel bedeutet wie »zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile«.
Und auf dem Türklopfer stand: »Rückkehr.«
»Was ist los?«, fragte Dr. Jarvis. »Sie sehen ganz krank aus.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich es. Aber irgendetwas, das Jane über diese Indianerlegende gesagt hat, passt zu dem, was Sie gerade sagten. Es gab da einen Dämon oder so etwas, der fähig war, Big Monster zu erledigen, obwohl Big Monster fast unzerstörbar durch Menschen oder Dämonen oder sonst jemanden war. Diesen Dämon nannte man den Ersten, der mit Worten Gewalt ausübte, oder so ähnlich.«
Dr. Jarvis trank seinen Gin Tonic aus und goss sich noch einen ein. »Ich sehe da keine Verbindung«, meinte er.
»Die Verbindung besteht darin, dass das Motto dieses Dämons ein indianisches Sprichwort war, das bedeutete: ›Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile‹.«
Dr. Jarvis furchte die Stirn. »Und?«
»Und das ist es! Sie sagten, welche Macht auch immer von Wallis’ Haus Besitz ergriffen hätte, sie würde sich nach und nach und Stück um Stück herausschleichen – zuerst das Atmen und jetzt der Herzschlag!«
Dr. Jarvis sah mich lange und unbewegt an, er hob noch nicht einmal sein Glas vom Tisch.
Ich sagte fast verlegen: »Es ist ja nur ein Gedanke. Es schien mir einfach mehr als ein reiner Zufall.«
»Sie wollen also andeuten, dass diese Geräusche in Wallis’ Haus etwas mit einem Dämon zu tun haben, der allmählich von Leuten Besitz ergreift? Stückchenweise?«
»Ist das nicht das, was Sie andeuten wollten?«
Dr. Jarvis seufzte und rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich meine. Wir sollten vielleicht im Haus anrufen und Mr. Wallis fragen, ob der Herzschlag jetzt auch verschwunden ist.«
»Ja, eine gute Idee. Ich habe den ganzen Tag noch nichts von ihm gehört.«
»Er hinterließ eine Nachricht, dass er angerufen hat«, sagte Dr. Jarvis. »Er wollte sich wahrscheinlich nach Corder erkundigen.«
Dr. Jarvis fand die Nachricht auf seinem Block und wählte Wallis’ Nummer. Er ließ es klingeln, klingeln und klingeln. Schließlich legte er den Hörer auf: »Keine Antwort. Ich vermute, er war so klug und hat das Haus verlassen.«
Ich trank mein Glas aus. »Würden Sie denn dort bleiben? Also ich nicht. Aber ich werde heute am Nachmittag mal dort vorbeischauen. Ich werde mir den Tag freinehmen.«
»Wird San Francisco denn seinen begabtesten Beamten im Gesundheitsamt nicht vermissen?«
Ich drückte meine Zigarette aus. »Ich habe mir bereits Gedanken über einen Wechsel gemacht. Vielleicht gehe ich in die Medizin. Ich habe den Eindruck, dass man dort ein ziemlich idyllisches Leben verbringen kann.«
Er lachte.
Ich trank noch etwas. »Haben Sie die Vögel gesehen?«
»Vögel? Was für Vögel? Ich habe die ganze Nacht bei Corder gewacht.«
»Ich bin überrascht, dass es Ihnen noch niemand erzählt hat. Ihr gesamtes verfluchtes Krankenhaus sieht aus wie ein Vogelschutzgebiet.«
Dr. Jarvis hob eine Augenbraue. »Was denn für Vögel?«
»Keine Ahnung – ich bin kein Ornithologe. Sie sind ziemlich groß und grau. Sie sollten mal rausgehen und sich das ansehen. Machen einen ziemlich düsteren Eindruck. Wäre ich weniger feinfühlig, dann würde ich sagen, es sind Geier, die darauf warten, dass Elmwoods reiche und unglückselige Patienten sterben.«
»Sind es viele?«
»Tausende. Zählen Sie sie mal.«
In diesem Augenblick klingelte Dr. Jarvis’ Telefon. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Jarvis.«
Er hörte einen Moment zu und erwiderte dann: »Okay. Ich komme sofort.« Dann knallte er den Hörer hin.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich.
»Es geht um Corder. Ich weiß wirklich nicht, wie zur Hölle er es geschafft hat, aber Dr. Crane sagt, dass er versucht haben soll, sich hinzusetzen.«
»Hinzusetzen? Machen Sie doch keine Scherze! Der Mann ist doch so gut wie tot!«
Wir ließen die Drinks stehen und liefen eilig durch den Flur zurück zum Beobachtungsraum. Dr. Crane war dort zusammen mit dem bärtigen Pathologen Dr. Nightingale und einer gut gebauten schwarzen Dame, die mir als Dr. Weston vorgestellt wurde, Spezialistin für Gehirnschäden. Obwohl sie so gut gebaut war, sprach und benahm sie sich wirklich wie ein Spezialist für Gehirnschäden, und mein Interesse schwand dahin. Eines Tages würde sie sicher einen gut aussehenden Neurologen treffen und heiraten.
Was mich erstarren ließ, war das Geschehen hinter der Glasscheibe in den blauen Tiefen der Intensivstation. Ich hatte dasselbe atemlose Empfinden wie jemand, der in ein Schwimmbecken steigt, das zehn Grad zu kalt ist.
Bryan Corder hatte seinen Kopf von uns fortgedreht; wir sahen nur noch den Hinterschädel und die frei liegenden Muskelstränge seines Nackens, rot und sehnig und überzogen von Adern. Doch er bewegte sich, er bewegte sich wirklich – streckte ständig seinen Arm nach vorne, als wolle er nach etwas greifen oder etwas zurückstoßen, und unter dem Bettlaken zuckten seine Beine.
Dr. Jarvis sagte: »Mein Gott, können wir ihn nicht ruhigstellen?«
Dr. Crane, ein bebrillter Facharzt mit einem Kopf, der im Verhältnis zu seinem Körper zwei Nummern zu groß erschien, sagte: »Wir haben schon Beruhigungsmittel verabreicht. Es scheint aber keine Wirkung zu haben.«
»Dann müssen wir ihn aufs Bett schnallen. Wir können ihn nicht umherirren lassen. Es ist doch grotesk!«
Dr. Weston, die schwarze Dame, unterbrach ihn: »Es mag vielleicht grotesk sein, Dr. Jarvis, aber es ist ein einmaliger Vorgang. Vielleicht sollten wir ihn ganz einfach tun lassen, was er möchte. Er wird auf jeden Fall nicht überleben.«
»Um Himmels willen!«, fluchte Dr. Jarvis. »Das ist einfach unmenschlich!«
Wie unmenschlich es wirklich war, das begriff von uns zunächst keiner – bis Bryan sich plötzlich auf einen Ellbogen aufstützte und langsam aus dem Bett schob.
Dr. Jarvis starrte auf die steife Gestalt in dem grünen OP-Kittel mit dem grauenhaften Knochenschädel auf ihren Schultern. Sie stand da allein und hilflos in einem Licht, blau wie ein Blitz, blau wie der Tod.
Dann schrie er seinem Assistenzarzt zu: »Er muss zurück ins Bett! Los, helft mir!«
Der Assistent blieb blass und zu Tode erschrocken stehen, aber Dr. Jarvis drückte die Tür zwischen dem Beobachtungsraum und der Intensivstation auf und ich folgte ihm.
Es roch fremd, seltsam kalt hier drinnen. Es war wie eine Mischung aus Äthylalkohol und etwas Süßem. Bryan Corder – der Rest von Bryan – stand nur vier oder fünf Schritte von uns entfernt, ruhig und unbeweglich, sein Schädel vom gierigen Tod blank gefressen.
»John«, sagte Dr. Jarvis ruhig.
»Ja?«
»Ich möchte, dass Sie seinen linken Arm nehmen und ihn zurück an das Bett führen. Zwingen Sie ihn, rückwärtszugehen. Wenn er das Bett erreicht, können wir ihn zurückdrücken, damit er sich setzt. Dann brauchen wir nur noch seine Beine aufs Bett zu legen, damit er wieder liegt. Sehen Sie die Gurte unter dem Bett? Sobald wir ihn hingelegt haben, werden wir ihn festbinden. Haben Sie mich verstanden?«
»Klar.«
»Haben Sie Angst?«
»Darauf können Sie sonst was wetten.«
Dr. Jarvis leckte sich nervös über die Lippen. »Okay, John, also los!«
Bryans Herzschlag, der in ständigen Lichtpunkten durch die Drähte auf seiner Brust auf den Monitor übertragen wurde, hatte immer noch den langsamen Rhythmus von 24 Schlägen in der Minute. Aber mein Herzschlag verlangsamte sich sicher noch mehr. Mein Mund war trocken vor Angst, meine Beine wurden zu den weichen Beinen von jemandem, der durch Wasser läuft.