»Wissen Sie nicht, wohin sie gegangen ist? Ich war zum Mittagessen mit ihr verabredet.«
»Sie hat kein Wort gesagt, Mann. Aber sie ist da lang gelaufen.« Er deutete auf den Embarcadero, die Küstenstraße.
Ich ging wieder hinaus. Ein Muster aus Sonnenstrahlen fiel auf den Bürgersteig und ich wurde von der Menge hin und her geschubst, die zu ihrem Mittagessen eilte. Ich schaute mich um, konnte Jane jedoch nirgendwo entdecken. Selbst wenn ich den Embarcadero entlanglief, würde ich sie wahrscheinlich verfehlen. Also ging ich zum Buchladen zurück und sagte dem Jungen, dass Jane mich zu Hause anrufen solle. Dann winkte ich mir wieder ein Taxi herbei und bat den Fahrer, mich zur Pilarcitos Street zu fahren.
Ich war etwas verstimmt, aber auch besorgt. So wie die Dinge in den letzten Tagen gelaufen waren, durch die Dan Machin und Bryan Corder im Krankenhaus lagen, wollte ich besser zu niemandem den Kontakt verlieren. Ich vermochte das unbestimmte Gefühl nicht loszuwerden, dass alles, was geschah, nach einem Plan ablief – als hätte Dan nach 1551 Pilarcitos gehen müssen, und auch, als sei Bryan wohlüberlegt dorthin geführt worden. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn mir etwas ähnlich Schreckliches zugestoßen wäre.
Das Taxi stoppte vor dem Haus und ich bezahlte den Fahrer. Im Sonnenlicht sah das Gebäude schäbig und so grau wie die Vögel auf dem Krankenhausdach aus. Ich öffnete das schmiedeeiserne Törchen und stieg die Stufen hoch. Der Türklopfer grinste mich wölfisch an, aber heute, im hellen Mittagslicht, spielte er mir keinen bösen Streich. Er bestand aus schwerer Bronze, mehr nicht.
Ich klopfte dreimal ziemlich laut. Dann wartete ich und pfiff Moon River. Ich hasste den Song, aber jetzt ging er mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich klopfte noch einmal, aber auch jetzt antwortete niemand. Vielleicht war Seymour Wallis spazieren gegangen. Ich wartete einige Minuten, knallte den Klopfer ein letztes Mal auf die Tür und drehte mich um, um zu gehen.
Doch als ich gerade die Stufen hinuntergehen wollte, hörte ich ein quietschendes Geräusch. Ich schaute zurück: Die Haustür hatte sich ein klein wenig geöffnet. Mein letztes Klopfen musste sie aufgedrückt haben. Sie war offensichtlich weder verschlossen noch hatte man die Kette vorgelegt. Wenn man bedachte, wie viele Riegel, Ketten und Sicherheitsschlösser Wallis an dieser Tür angebracht hatte, dann entsprach es absolut nicht seiner Art, sie völlig unverschlossen zu lassen.
Ich starrte auf die Tür und fragte mich: Was stimmt hier nicht? Aus irgendeinem Grund, den ich nicht erklären kann, lief mir ein Schauder über den Rücken und ich spürte Angst in mir aufsteigen. Aber noch schlimmer war, dass ich genau wusste, dass ich die Tür nicht einfach offen stehen lassen und fortgehen konnte. Ich musste in dieses Haus gehen – das alte Haus, das atmete und in dem Herzschläge zu hören waren – und feststellen, was da vor sich ging.
Langsam stieg ich die Stufen wieder hinauf. Fast eine Minute stand ich vor der halb offenen Tür und versuchte, in dem Stück Dunkelheit, das ich sehen konnte, Schatten und Formen zu erkennen. Der Türklopfer blickte jetzt an mir vorbei, die Straße hinauf, aber sein Lächeln war genauso hochmütig und feindselig wie bisher.
Ich schaute auf den Klopfer und sagte: »Okay, Klugscheißer. Welche scheußlichen Fallen hast du dir diesmal wieder einfallen lassen?«
Der Türklopfer grinste und erwiderte nichts. Ich hatte das auch nicht wirklich erwartet – ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, hätte er sich gerührt. Doch irgendwie war es schon eine unheimliche Situation, zu erkennen, ob ein Spuk ein Spuk ist und nicht nur ein ordinärer Türklopfer oder ein Schatten oder ein Hutständer …
Ich streckte die Arme aus und stieß die Tür etwas weiter auf, wie ein Mann, der sich über eine abgrundtiefe Grube beugt. Sie erzitterte und knarrte etwas stärker. Drinnen in der Diele hingen Staub und Dunkelheit, auch der modrige Geruch war immer noch stark zu riechen.
Ich schluckte tief, trat ein und rief: »Mr. Wallis? Seymour Wallis?«
Es kam keine Antwort. Sobald ich die Diele betreten hatte, wurden die Geräusche von der Straße dumpfer und schwächer. Ich stand da und hörte nur noch mein eigenes heftiges Atmen.
»Mr. Wallis?«, rief ich noch einmal.
Ich ging zur Treppe. Die Bärenfrau stand noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Pfosten des Treppengeländers. Ich blinzelte hoch in die Dunkelheit des ersten Stockes, konnte aber absolut nichts erkennen. Um ganz ehrlich zu sein, ich war auch absolut nicht geneigt hinaufzugehen. Ich beschloss, einen Blick in Seymour Wallis’ Büro zu werfen, und sollte er nicht zu Hause sein, dann würde ich schleunigst von hier verschwinden.
So leise wie möglich ging ich auf Zehenspitzen über den verschlissenen Teppich zu der Tür unter dem verstaubten Hirschkopf. Das Büro war verschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Langsam drehte ich ihn um und hörte das laute Schnappen des Schließmechanismus in der undurchdringbaren Stille der toten Luft, die das Haus scheinbar seit all den Jahren, in denen es hier stand, ausfüllte.
Ich legte meine Hand um den Messingknopf der Tür und drehte ihn. Die Bürotür öffnete sich. Drinnen war es finster, denn die Vorhänge waren noch vorgezogen. Ich griff neben den Türrahmen, um den Lichtschalter zu finden. Meine Finger tasteten über die kühle Tapete und ich drückte den Lichtschalter nach unten, aber es passierte nichts. Die Birne musste durchgebrannt sein.
Nervös drückte ich die Tür weiter auf und trat ein. Ich schaute fast panisch hinter die Tür, um mich zu vergewissern, dass sich dort nichts und niemand versteckte – ein kurzer Schock durchzuckte mich, als ich den Bademantel von Seymour Wallis dort hängen sah. Dann strengte ich meine Augen an und starrte auf die dunklen Umrisse von Seymour Wallis’ Schreibtisch und Stuhl.
Eine Weile konnte ich nicht erkennen, ob dort irgendetwas war oder nicht. Während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, bildete sich ein Umriss. »Oh Gott.« Die Worte klangen wie ein Röcheln.
Ein riesiger, aufgedunsener Mann saß auf Seymour Wallis’ Stuhl. Sein Kopf war ganz schwarz und aufgebläht, seine Arme und Beine waren zum doppelten Umfang angeschwollen. Sein Gesicht war so dick, dass die Augen nur noch schmale Schlitze bildeten, und seine Finger quollen wie fette, purpurne Schnecken aus den Hemdsärmeln.
Ich hätte ihn niemals erkannt, doch seine Kleidung verriet ihn. Ich zog die Vorhänge ein Stück beiseite. Es war Seymour Wallis. Eine aufgeblähte, angeschwollene, groteske Karikatur von Seymour Wallis.
Ich konnte die Worte kaum aussprechen: »Mr. W-Wallis?«
Die Kreatur rührte sich nicht.
»Mr. Wallis, leben Sie?«
Das Telefon stand auf seinem Schreibtisch. Ich musste sofort Dr. Jarvis anrufen und vielleicht auch Lieutenant Stroud, aber das bedeutete, dass ich an diesem aufgeblähten Körper vorbeimusste. Ich ging vorsichtig auf ihn zu und schaute und schaute, um mir darüber klar zu werden, ob er tatsächlich tot sei. Ich vermutete, dass es so war. Er bewegte sich nicht und es sah aus, als ob jede Vene und Arterie seines Körpers ein Bluterguss sei.
»Mr. Wallis?«
Ich trat ganz nahe heran und ging etwas in die Knie, um ihm direkt in das bläuliche, aufgeblähte Gesicht sehen zu können. Er schien nicht zu atmen. Ich schluckte wieder, um mein Herz zurück in die Brust zu drücken, wohin es gehörte, und beugte mich langsam und nervös vor, um den Telefonhörer abzunehmen.
Ich wählte die Nummer des Elmwood Foundation Hospitals. Es schien Jahrhunderte zu dauern, bevor sich die Telefonistin meldete: »Elmwood-Krankenhaus. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Rufen Sie Dr. Jarvis ans Telefon«, flüsterte ich. »Es ist ein Notfall.«
»Sprechen Sie bitte etwas lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«