»Dr. Jarvis!«, sagte ich heiser. »Sagen Sie ihm, dass es dringend ist!«
»Einen Moment bitte.«
Sie schaltete mich in die Warteschleife, um Dr. Jarvis zu informieren, und eine schmalzige Musik ertönte. Ich blickte besorgt auf Seymour Wallis’ blutunterlaufenes Gesicht und hoffte und betete, dass er nicht plötzlich aufsprang und nach mir griff.
Die Musik verstummte und die Telefonistin sagte: »Es tut mir leid, aber Dr. Jarvis ist gerade beim Mittagessen, und wir wissen nicht, wo er ist. Möchten Sie mit einem anderen Arzt sprechen?«
»Nein, danke. Dann komme ich selbst ins Krankenhaus.«
»Dann benutzen Sie bitte den Südeingang. Momentan sind die Leute vom Gesundheitsamt im Haus, um einige Vögel zu verjagen.«
»Sind die Vögel noch immer da?«
»Oh ja. Sie sitzen überall.«
Ich legte den Hörer auf und ging vorsichtig rückwärts fort von Seymour Wallis. Ich war erst zwei oder drei Schritte auf die Tür zugegangen, als sein Drehstuhl plötzlich herumschwenkte und sein mächtiger Körper seitlich auf den Teppich fiel, aufs Gesicht, und so liegen blieb. Der Schock war so heftig, dass ich wie gelähmt dastand, unfähig wegzulaufen, unfähig zu denken. Aber dann wurde mir klar, dass er entweder tot oder hilflos war, und ich ging hin und kniete mich neben ihn.
»Mr. Wallis?« Ich muss zugeben, dass ich keine Hoffnung auf eine Antwort hatte.
Er blieb regungslos liegen, angeschwollen wie ein Mensch, der wochenlang im Meer herumgetrieben war.
Ich stand wieder auf. Auf seinem Schreibtisch lag ein einfaches Stenoheft, in das er offensichtlich Eintragungen gemacht hatte. Ich nahm es und blätterte einige Seiten zurück. Die Schrift war ziemlich unsicher, wie von einem Kind, das verbissen das Schreiben lernt. Es sah so aus, als hätte Seymour Wallis darum gerungen, seine Notizen zu vervollständigen, bevor die Schwellung ihm das Schreiben unmöglich machte.
Ich hielt das Heft etwas seitlich, damit das Licht von draußen auf die Seiten fallen konnte. Da stand: »Ich weiß jetzt, dass alle diese unseligen Ereignisse in Fremont nur der Beginn eines viel schrecklicheren Geschehens waren. Was wir entdeckten, war nicht das Wesen selbst, sondern ein Talisman, der das Wesen zu neuem Leben anregte. Vielleicht war das Datum für seine Rückkehr schon immer vorherbestimmt. Möglicherweise waren all diese grausigen Ereignisse noch Zufälle, aber über eines bin ich mir ganz sicher: Von dem Tage an, an dem ich den Talisman in Fremont entdeckte, hatte ich gar keine andere Wahl, als das Haus Nummer 1551 zu kaufen. Die uralten Einflüsse waren viel zu stark für jemanden, der so schwach wie ich war und ohne Kenntnis über diese Macht, um Widerstand zu leisten.«
So endete es. Ich verstand es überhaupt nicht. Vielleicht dachte Seymour Wallis, dass sein Unglück bei dem Fremont-Auftrag ihn endgültig eingeholt hätte – nach seinem Zustand zu urteilen, konnte ich ihm gar nicht unrecht geben. Aber in diesem Augenblick hatte ich nur noch den einen Gedanken, raus aus diesem Haus zu kommen und mit Dr. Jarvis zu sprechen. Ich war nun endgültig davon überzeugt, dass in diesem Haus ein feindseliges, brütendes Übel hockte. Wenn bereits drei Leute so qualvoll hatten leiden müssen, weil sie versucht hatten, diesem Übel auf die Spur zu kommen, dann war mir klar, dass ich leicht das vierte Opfer werden könnte.
Ich ging durch die Diele und warf noch schnell einen Blick die Treppe hinauf, für den Fall, dass dort oben etwas Entsetzliches stehen würde, und schlich mich an dem Türklopfer vorbei zum Ausgang. Als ich mich umdrehte, um die Tür zu schließen, sah ich jedoch etwas, was mich fast mehr traf und ängstigte als alles, was vorher passiert war.
Auf dem Treppenpfosten fehlte die Figur. Die Bärenfrau war fort.
Vor dem Krankenhaus versuchten die Männer des Gesundheitsamtes, die grauen Vögel mit lauten Gewehrschüssen zu vertreiben. Ich kannte einen von ihnen, Innocenti, und ging zu ihm, um zu fragen, ob sie Erfolg hätten.
Innocenti deutete angeekelt auf die immer noch reihenweise dahockenden, stummen Vögel, die sich an den Gewehrsalven überhaupt nicht störten.
»Solche Vögel habe ich noch nie gesehen. Sie sitzen einfach da. Auch wenn wir rufen, bleiben sie sitzen. Wenn wir schreien, bleiben sie sitzen. Wir haben Henriques mit einer Holzklapper aufs Dach geschickt, und was tun sie? Sie bleiben sitzen. Vielleicht sind sie schwerhörig. Vielleicht ist es ihnen egal. Sie hocken da und sie scheißen noch nicht einmal.«
»Habt ihr herausgefunden, was es für Vögel sind?«
Innocenti zuckte die Achseln. »Tauben, Raben, Enten, wer kennt sich denn mit Vögeln aus? Ich bin kein Ornithologe.«
»Vielleicht haben sie eine besondere Eigenart?«
»Aber sicher: Sie sind so stinkfaul, dass sie nicht einmal fortfliegen.«
»Nein, aber vielleicht sind sie eine besondere Vogelgattung.«
Innocenti blieb unbeeindruckt. »Hören Sie, Mr. Hyatt, von mir aus können sie sein, was sie wollen, verdammt. Ich weiß nur, dass ich sie irgendwie vom Dach kriegen muss, denn solange ich sie hier nicht herunterhabe, muss ich hierbleiben und versäume deshalb das Abendessen. Wissen Sie, was es heute zu Abend gibt?«
Ich winkte ihm freundlich zu und ging zum Eingang des Krankenhauses hinüber.
»Osso bucco!«, brüllte er mir nach. »Das gibt es heute Abend!«
Ich betrat das Krankenhaus und ging durch das mit italienischen Hölzern ausgelegte Foyer direkt auf die Aufzüge zu. Die stilvolle Metalluhr an der Wand zeigte 19 Uhr an. Es war inzwischen vier Stunden her, seitdem ich Dr. Jarvis aus einer Telefonzelle angerufen und endlich erreicht hatte. Vier Stunden, seitdem der Krankenwagen eingetroffen war und man Seymour Wallis’ entstellten Körper auf einer Bahre aus dem Haus getragen hatte – abgedeckt von einem grünen Tuch, damit kein Passant diesen für einen normalen Menschen viel zu großen Körper sah. Vier Stunden, seitdem Dr. Jarvis und Dr. Crane mit der Leichenöffnung begonnen hatten.
Ich fuhr rauf bis zum fünften Stock und lief dann durch den Flur zu James Jarvis’ Büro. Ich ging hinein, nahm die Ginflasche aus seinem Schreibtisch und ein Tonicwasser aus dem Kühlschrank. Dann setzte ich mich, lehnte mich zurück und trank etwas von dem starken, erfrischenden Getränk, und beim heiligen Antonius und der heiligen Theresa, ich brauchte das.
Den ganzen Nachmittag hatte ich versucht, Jane zu finden. Ich hatte jeden gemeinsamen Freund oder Bekannten angerufen, der mir eingefallen war, bis ich schließlich kein Kleingeld und keine Energie mehr besaß. Währenddessen hatte ich mich bei McDonald’s mit einem Cheeseburger und einer Tasse schwarzem Kaffee gestärkt und dann aufgemacht in Richtung Elmwood. Ich fühlte mich hilflos, verloren, frustriert und verängstigt.
Ich füllte gerade mein Glas mit einem zweiten Gin Tonic, als Dr. Jarvis eintrat und seinen Mantel über den Stuhl warf.
»Hi«, sagte er, etwas kurz angebunden.
Ich hob mein Glas. »Ich habe mich hier häuslich niedergelassen. Ich hoffe, du bist nicht böse.«
»Ach, wieso denn? Mach mir auch einen fertig, wenn du schon dabei bist.«
Ich ließ zwei Eiswürfel in ein weiteres Glas fallen und fragte: »Seid ihr mit Wallis’ Obduktion fertig?«
Er nahm schwerfällig Platz und rieb sich über das Gesicht. »Ja, sind wir. Wir haben die Leichenöffnung abgeschlossen.«
»Und?«
Er sah mich durch seine gespreizten Finger an. Seine Augen waren rot vor Müdigkeit und Konzentration. »Willst du es wirklich wissen? Willst du wirklich in die Sache hineingezogen werden? Du brauchst es nicht, das weißt du. Du bist ja nur Beamter beim Gesundheitsamt.«
»Sicher, es ist wohl so, aber ich stecke doch schon mittendrin. Nun erzähl schon, Jim. Dan Machin und Bryan Corder waren meine Freunde. Und jetzt Seymour Wallis. Ich fühle mich verantwortlich.«
Dr. Jarvis nahm sein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Zitternd zündete er sich eine an und schob die Schachtel zu mir herüber. Ich ließ sie dort liegen. Bevor ich mich entspannte, wollte ich wissen, was vor sich ging.