Ich atmete tief ein. Wie seltsam und weit hergeholt diese ganze Geschichte auch zu sein schien, ich wusste, dass ich um meines eigenen ruhigen Gewissens willen Dr. Jarvis anrufen und ihm davon erzählen musste. Jim Jarvis war intelligent und er war Vorschlägen gegenüber offen, doch ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn ich George Thousand Names’ Anweisungen durchgab.
»Mr. Thousand Names, darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte ich.
»Selbstverständlich. Was halten Sie jetzt von einem Schluck Feuerwasser?«
»Sehr viel. Wie wäre es mit russischem Feuerwasser und Tonic?«
Ich ging über die glänzenden Holzdielen zurück ins Haus und nahm den Hörer ab. George Thousand Names folgte mir und bat das Mädchen um einige Drinks für uns drei. Anschließend setzte er sich im Schneidersitz auf sein kleines Sofa und öffnete seine Tabaksdose. Neben ihm auf dem Kaffeetisch stand ein Pfeifenständer. Keine davon sah aus wie eine Friedenspfeife – es waren zwei teure Meerschaumpfeifen und drei englische Bruyèerepfeifen.
Der Telefonist des Round-Valley-Reservats verband mich mit San Francisco und San Francisco stellte zum Elmwood Foundation Hospital durch. Dr. Jarvis war glücklicherweise zu sprechen.
»Jim? Hier spricht John Hyatt. Ich rufe aus dem Round Valley an.«
»Gott sei Dank, ich habe versucht, dich zu erreichen. Hier ist die Hölle los.«
»Was ist denn los?«
»Hier drehen alle durch. Dein Freund Dan Machin ist aus seinem Koma erwacht und er hat sich mit Bryan Corder eingeschlossen. Wir haben versucht, die Tür aufzubrechen, aber ohne Erfolg. Dr. Crane hat gerade die Polizei angerufen, damit sie die Tür aufbrechen.«
Wieder diese Woge der Angst.
»Er hat sich selbst eingeschlossen? Du willst sagen, sie sind zusammen?«
»Richtig. Ich weiß nicht, was die …«
Plötzlich war die Verbindung unterbrochen. Ich schüttelte das Telefon, aber die Leitung war absolut tot.
George Thousand Names sagte: »Tut mir leid, das passiert hier manchmal. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
Ich legte den nutzlos gewordenen Hörer hin. »Ich glaube ja. Dan Machin hat sich mit Bryan Corder in einem Zimmer eingeschlossen. Die Belegschaft des Krankenhauses kommt nicht an sie heran.«
George Thousand Names stopfte weiter seine Pfeife und griff nach den Streichhölzern. »Das klingt, als ob es losgeht«, sagte er. »Vielleicht fahren wir besser hinunter.«
»Wir?«
Das Indianermädchen brachte die Getränke und George Thousand Names hob sein Bourbonglas.
»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich den Weißen den größten indianischen Dämon allein überlassen werde, oder? Über dieses Ereignis werden die roten Männer noch in Generationen sprechen. Jetzt trinken wir erst einmal auf die Verwirrung unserer Feinde.«
Ich hob meinen Wodka. »Ich weiß nichts über die Verwirrung unserer Feinde«, meinte ich trocken. »Ich weiß aber verdammt genau, dass ich völlig verwirrt bin.«
In dieser Nacht fuhren wir mit über 90 Meilen pro Stunde nach San Francisco zurück, während Insekten auf der Windschutzscheibe zerklatschten und unsere Gesichter grün im Licht der Armaturenbeleuchtung des Jaguars schimmerten. Mit quietschenden Reifen nahmen wir die Kurven den Berg hinunter, bis wir auf die 101 trafen, auf der wir uns durch Willits, Ukiah, Cloverdale und zurück ins Sonoma County schlängelten. Es war kurz nach Mitternacht, als wir in Marin County ankamen, und erst als ich das Glitzern der Lichter über der dunklen Bucht von San Francisco sah, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und fuhr mit 40 über die Golden Gate Bridge.
George Thousand Names hatte bequem auf dem Rücksitz geschnarcht, erwachte aber mit einem Satz, als wir vom Presidio Drive abbogen und in Richtung Krankenhaus fuhren. Er streckte sich und sagte: »Die verflixten englischen Wagen zwingen einen, die ganze Zeit aufrecht zu sitzen. Für wen halten Sie mich eigentlich, für einen Adligen vom Lande?«
»Sie hätten ja nicht mitfahren brauchen«, erinnerte ich ihn, während wir in die Einfahrt bogen und in den Hof des Krankenhauses einfuhren.
»Das wäre ja so, als hätte man versucht, Custer davon abzuhalten, zum Little Big Horn zu reiten.«
»Sind Sie so pessimistisch?«, fragte Jane.
George Thousand Names schnäuzte sich ziemlich laut. »Pessimismus ist nicht gerade eine indianische Eigenschaft. Ich habe das Omen des heutigen Tages befragt, bevor wir losfuhren, und das scheint in Ordnung, obwohl ich hinzufügen muss, dass eine Wolke am Horizont steht, nicht größer als die Faust eines Mannes.«
»Das sind die Vögel«, sagte ich und zeigte nach oben. »Es scheint so, als ob das Gesundheitsamt den Versuch aufgegeben hat, sie fortzujagen.«
Die Scheinwerfer glitten über die Reihen der grauen Vögel, als wir die Einfahrt hochfuhren. Dann parkte ich den Jaguar und wir stiegen aus. George Thousand Names stand in der frischen Nachtluft und starrte auf die stummen, gefiederten Zeugen von Coyotes Wiedergeburt.
»Und?«, fragte ich.
Er nickte. »Es gibt keinen Zweifel. Dies sind die seltenen Vögel, die wir die ›Graue Traurigkeit‹ nennen. Man hat sie in großen Ansammlungen bei Wounded Knee und beim Begräbnis von Sitting Bull gesehen, ebenso als Rain-in-the-Face starb. Es sind die Vögel der Trauer und des Unglücks.«
Jane kam zu mir und fasste nach meiner Hand. Ihre eigene Hand war sehr kalt. »Bedeutet ihre Anwesenheit wirklich, dass Coyote hier ist?«
George Thousand Names hob den Kopf, als ob er in den Wind schnüffelte, und fragte uns: »Können Sie etwas riechen?«
Ich schnupperte. »Nicht viel. Ich habe eine Nasenverkrümmung.«
Jane sagte: »Es riecht wie … Ich weiß nicht genau, wonach. Wie Hunde … Wie Hunde, wenn sie nass sind.«
Er nickte und sagte nichts weiter. Ich nahm Janes Arm und führte sie zu den Krankenhaustüren und er folgte uns, sah dabei ab und zu hinauf zu den Vögeln, der Grauen Traurigkeit. In seinem Blick lag der Ausdruck von Misstrauen und Angst, wie bei einem Jungen, den man in eine Leichenhalle führt, damit er sich den Leichnam seines Vaters ansieht.
Bei den Aufzügen standen zwei uniformierte Wachpolizisten des SFPD. Einer von ihnen kam durch das Foyer auf uns zu und hob die Hand.
»Tut mir leid, Sir. Im Moment darf niemand hier hinein.«
»Ich bin mit Dr. Jarvis verabredet. Er erwartet uns.«
Der Polizist sah uns prüfend an. »Es tut mir leid. Ich habe strikte Anweisungen, niemanden hinaufzulassen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Dr. Jarvis hat vor drei oder vier Stunden mit mir telefoniert und wir kommen jetzt extra aus Round Valley.«
»Mister«, sagte der Polizist geduldig. »Es wäre mir auch egal, wenn Sie vom Mars kämen. Meine Befehle lauten: Niemand fährt hoch.«
Der zweite Polizist kam heran: »Das stimmt. So lauten die Befehle.«
»Jetzt hören Sie doch zu, verdammt noch mal …«, entgegnete ich.
George Thousand Names unterbrach mich. »Wir haben eine Erlaubnis«, erzählte er dem Polizisten ruhig. »Möchten Sie sie sehen?«
Die Polizisten schauten ihn misstrauisch an. Aber George Thousand Names griff in seine rote Windjacke und hob eines der goldenen Amulette in die Höhe, die um seinen Hals hingen.
»Was ist das?«, fragte einer der Polizisten.
»Schauen Sie es an«, bat George Thousand Names. »Schauen Sie nur.«
Irgendwie fing er das Licht des Foyers mit dem Amulett auf und ließ es in die Augen der Polizisten scheinen. Die schienen zu blinzeln und erstarrten, dann traten sie einen Schritt zurück, als hätte sie jemand aus dem Weg gestoßen.
Ich sah George Thousand Names an und dann Jane, aber Jane zuckte nur die Achseln.
»Wir haben eine Genehmigung und dürfen hier hinein«, sagte George Thousand Names laut. »Haben Sie verstanden?«