Die beiden Polizisten nickten. Einer von ihnen drehte sich wie ein Schlafwandler um und öffnete uns die Türen des Aufzugs. Wir traten ein. George Thousand Names flüsterte zu mir: »Immer zu Ihren Diensten, Mr. Hyatt«, und ich drückte auf den Knopf für die fünfte Etage.
»Ist das eine Art Hypnose?«, fragte ich, während wir langsam aufwärtsfuhren. »Sie haben das doch mit dem Amulett gemacht?«
Der Medizinmann stopfte es in seine Windjacke zurück. »Wir nennen es ›Den Weg der Freundlichen Eroberung‹. Es ist eine Art Hypnose, ja, aber sie hat den Vorteil, eine Gehorsamstrance für nur wenige Augenblicke herbeizuführen, Augenblicke, an die sich das Opfer nie mehr erinnern wird. Sie können sie nicht auf Leute anwenden, die aggressiv sind oder sich vorgenommen haben, der Hypnose zu widerstehen. Aber es klappt ganz gut bei normalen Menschen, deren Gemütslage ziemlich entspannt ist.«
»Aber werden die Polizisten jetzt nicht nach uns suchen?«, fragte Jane.
George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Das ist unwahrscheinlich. Sie werden vielleicht jetzt gerade da unten stehen und die Köpfe schütteln, weil sie das sichere Gefühl haben, dass irgendetwas nicht stimmt, aber sie werden absolut nicht wissen, was es sein könnte.«
Wir erreichten den fünften Stock und die Aufzugtüren öffneten sich. George Thousand Names ging höflich an Janes Seite in den Flur und ich folgte ihnen und schaute mich nach den Anzeichen der schrecklichen Panik um, von der Jim bei seinem Anruf gesprochen hatte.
Der Flur lag ruhig vor uns. Ich horchte einen Augenblick, konnte aber noch nicht einmal die Geräusche eines geschäftigen Privatkrankenhauses vernehmen wie etwa Rollwagen, Gespräche oder Durchsagen für die Ärzte. Nichts – nur das Surren des Aufzugs, als dessen Türen sich hinter uns schlossen und er in eine andere Etage hinauffuhr.
»Ich schlage vor, dass wir es am besten erst einmal in Dr. Jarvis’ Büro versuchen«, sagte ich. »Wenn er nicht dort ist, dann wird er sicher auf der Intensivstation sein, die ist weiter den Flur hinab.«
»Gehen Sie vor«, bat George Thousand Names. »Je eher wir dieses Monster in unsere Gewalt bekommen, desto besser.«
Jane lachte nervös. »Das hört sich ja an wie ein Frankenstein-Film.«
George Thousand Names steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, verzog das Gesicht und erwiderte pragmatisch: »Es ist schlimmer als das.«
Wir gingen über den weichen roten Teppich bis zu Jims Büro. Ich hielt den Atem an und klopfte an die Tür. Wir warteten, aber es kam keine Antwort.
George Thousand Names, dessen Augen in seinem Ledergesicht ruhig wie die einer Eidechse aussahen, meinte: »Ich hoffe, Sie haben diesem Arzt gesagt, wem er da gegenübersteht.«
Ich öffnete Dr. Jarvis’ Tür und schaute mich prüfend in dem kleinen Zimmer um. Es war sauber und ordentlich. Auf dem Schreibtisch stand noch ein dampfender Kaffeebecher, verlassen, wie die letzte Mahlzeit auf der Marie Céleste. Ein Zigarettenstummel schwelte in dem übervollen Aschenbecher. Die nahezu leere Ginflasche stand auf dem Kunststoffschränkchen.
»Gespenstisch«, flüsterte Jane.
»Sie müssen hinten in der Intensivstation sein«, sagte ich. »Es geht da entlang, auf der linken Seite.«
Als wir um die Ecke bogen, begannen wir zu laufen. Ich weiß nicht, warum. Die Stille gab uns irgendwie das Gefühl der Dringlichkeit – je länger es so totenstill blieb, desto unheimlicher kam uns alles vor. Alles, was wir hörten, war unser eigenes Atmen und das heftige Rascheln der Kleidung, weil wir uns so schnell bewegten.
Ich machte mir nicht einmal die Mühe, an die Doppeltüren der Station zu klopfen. Ich drückte sie einfach auf, hinein in das Flimmern und die Schatten und das blaue Zwielicht der Welt, in der Bryan Corder sein unnatürliches Leben weiterlebte.
Dr. Jarvis war da, ebenso Dr. Crane, Dr. Weston und Lieutenant Stroud von der Polizei; außerdem zwei verwirrte, stämmige Polizisten.
Jim drehte sich um, als wir eintraten. »Du hast es geschafft. Ich hatte schon Angst, dass es nicht klappt.«
»Was ist denn los?«, fragte ich. »Was ist hier passiert?«
Jim nahm meinen Arm und führte mich nach vorne zur Glaswand, die den Blick in die Tiefen der eigentlichen Station freigab. Drinnen brannte immer noch das blaue Licht, aber irgendwie erschien das Licht schwächer und viel unruhiger, ähnlich wie das kalte Leuchten, das in den Nächten über die See schwebt. Ich konnte die Umrisse des Bettes erkennen, Ständer mit Infusionslösungen und einige silberne Geräte, die darumstanden. Ich glaubte, die knochenweiße Wölbung von Bryan Corders Schädel zu erkennen, aber auf dem Bett selbst lag ein undefinierbares Gewirr von verdrehten Gliedern und Fleisch. Genaueres konnte ich nicht unterscheiden, weil es zu dunkel war.
»Dan Machin ist da drin?«, fragte ich. »Ich sehe ihn nicht.«
»Können Sie nicht hineingehen?«, fragte Jane.
Lieutenant Stroud, groß und kultiviert wie immer, antwortete: »Lady, wir stehen hier draußen nicht aus Gesundheitsgründen. Wir haben sechs-oder siebenmal versucht hineinzugelangen, aber jedes Mal wurden wir zurückgetrieben.«
»Zurückgetrieben?«, fragte ich. »Was meinen Sie mit ›zurückgetrieben‹?«
»Versuchen Sie es selbst«, schlug Lieutenant Stroud vor. »Die Tür befindet sich direkt vor Ihnen.«
Ich ging schon vorwärts, aber George Thousand Names sagte, und das sehr leise: »Tun Sie es nicht, Mr. Hyatt. Es lohnt sich nicht.«
Lieutenant Stroud fragte: »Was wissen denn Sie?«
George Thousand Names schaute ihn durch das Dämmerlicht an, und ich sah, dass er ein Lächeln unterdrückte.
»Das ist George Thousand Names, Lieutenant«, sagte ich. »Wir haben ihn heute Nacht vom Round Valley Reservat mitgebracht.«
»Schwätzen Sie immer noch von diesem Indianerkram?«
»Nennen Sie es ruhig Schwätzen«, entgegnete ich gelassen. »Aber bisher ist es die einzige vernünftige Erklärung. George Thousand Names glaubt, dass wir Zeuge der Wiedergeburt eines indianischen Dämons aus der frühen Zeit sind.«
Lieutenant Stroud sah Dr. Jarvis, dann die anderen Ärzte und danach seine beiden Plattfüße an. Dann wandte er sich mit sarkastischem, missratenem Lächeln George Thousand Names zu. »Ein indianischer Dämon aus der frühen Zeit? Ich habe das richtig verstanden?«
George Thousand Names war zu alt und zu selbstbeherrscht, als dass er sich durch Sarkasmus herausfordern ließ. Er nickte nur. »Das ist richtig. Der Name des Dämons lautet Coyote, manchmal wird er auch der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, genannt. Er wird allgemein als ein Dämon der Verwirrung, des Zorns, des Streites angesehen, abgesehen von seiner unersättlichen Gier nach Frauen.«
Lieutenant Stroud lachte auf, kurz und hart. »Der dämonische Frauenschänder?«
George Thousand Names lächelte, blieb aber beherrscht. »Das ist genau richtig, Lieutenant. Der dämonische Frauenschänder. Es gibt ein altes Lied der Navahos, das erzählt, wie Coyote auf einem Bergpfad einst eine junge Frau traf, wie er sie dazu brachte, ihr Kleid für ihn zu heben. Ein charmantes Lied, auf seine Weise. Aber es erwähnt nicht, dass Coyote der wildeste und am fürchterlichsten aussehende Dämon aller Zeiten war und dass er sich nicht gerade wie ein Gentleman benahm, wenn er eine Frau verführte.«
»Was meinen Sie mit nicht wie ein Gentleman benahm?«, fragte Lieutenant Stroud kühl.
»Es sind Damen anwesend.«
»Keine der Damen hier wird sich über anatomische Einzelheiten aufregen, wenn Sie auf so etwas rauswollen.«
»Das ist es nicht«, antwortete George Thousand Names. »Wenn es diesem Dämon gelingt, wieder ins Leben zurückzukehren, dann wird keine Frau in San Francisco vor ihm sicher sein, und ich möchte die Damen nicht unnötig beunruhigen.«
»Spucken Sie es schon aus«, forderte Lieutenant Stroud. »Wenn hier etwas passiert, dann will ich auch wissen, was!«