»Ich will wissen, was da drinnen vor sich geht, in dem Zimmer. Ich möchte, dass Sie es mir erklären«, meinte er schließlich.
George Thousand Names trat einen Schritt vor. Das blaue Licht, das aus der Intensivstation strahlte, ließ seine Augen glitzern und vertiefte die Furchen in seinem Gesicht mit azurblauen Linien. Er hob eine seiner faltigen Hände – ums Handgelenk hingen Perlenarmbänder und die Finger waren mit Silberringen geschmückt – und presste die Hand gegen das Glas, als könne er die Vibrationen fühlen, die von der dunklen, verschlungenen Masse ausgingen, die vielleicht Dan war, oder Bryan, oder beide, oder vielleicht auch keiner von ihnen.
Mit der anderen Hand fasste er nach seinem goldenen Amulett und sagte leise: »Es ist die Zeit für Coyote gekommen, sich wieder selbst zum Leben zu erwecken, sich aus dem Lehm des menschlichen Fleisches neu zu formen. Er benötigt Blut, aber er kann auch ohne Blut auferstehen. Er formt sich aus den Körpern derer, die seinen Herzschlag und seinen Atem aufnahmen. Seht!«
Die ganze Zeit, während George Thousand Names die Hand gegen das Glas gepresst hielt, muss er geistig gegen die Kräfte Coyotes gekämpft haben. Als er nämlich ›Seht!‹ sagte, wurde das blaue Licht deutlich heller, und in dieser kurzen und entsetzlichen Helligkeit konnten wir tatsächlich sehen, was er versucht hatte, uns zu erklären. Wir sahen den Anfang des Erscheinens von Coyote, dem Dämon, dem Frauenschänder und Verräter, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.
Wir sahen Glieder, die sich auf dem Bett hoben und wieder herabsanken. Zunächst wirkte es wie Arme und Beine von Menschen, die in einem dunklen See untergehen – aber dann schien die in sich verknotete Fleischmasse sich zu erheben und fast aufrecht zu stehen. Ich konnte nur sprachlos hinstarren und fühlte, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
Auf eine unbeschreibliche Weise waren Dan Machin und Bryan Corder zu einer Kreatur zusammengewachsen. Sie war fast zweieinhalb Meter groß und erhob sich blind von dem Bett. Bryans fleischloser Schädel bildete ihren Kopf, aber sie hatte von den beiden Männern die Beine und auch die Arme, die sie nach uns ausstreckte. Die beiden Rümpfe hatten sich in einem formlosen Doppelleib ineinander verschlungener Muskeln vereinigt, und Dan Machins gespenstisches Gesicht erschien einen Augenblick inmitten des Magens der Bestie, gegen die durchsichtige Haut gepresst, den Mund zu einem höllischen Schrei geöffnet.
Jim stammelte: »Das ist unmöglich!« Dr. Weston stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Aber das blaue Licht wurde schon wieder schwächer und wir konnten nur noch die dunklen Umrisse des monströsen Geschöpfes erkennen.
Lieutenant Stroud sagte heiser: »Nun gut, Mr. Thousand Names, was ist das?«
George Thousand Names ging müde vom Fenster fort. »Es ist Coyote«, antwortete er schlicht. »Er nimmt viele Formen an, aber diese bevorzugt er. Er könnte auch als Frau, als Hirsch oder sogar als Fisch erscheinen. Es wird erzählt, dass er seine irdische Gestalt einmal aus einem Mädchen und einer Tarantel gebildet hat. Aber heute Abend wird er glücklich sein. Er hat zwei starke junge Männer für seine Reinkarnation, und unten im Leichenkeller liegt das Blut von Seymour Wallis.«
»Haben Sie die Anweisung erteilt, dass man das Blut fortschafft?«, fragte Lieutenant Stroud.
»Dr. Crane kümmert sich darum«, erwiderte Dr. Jarvis. »Seymour Wallis’ Körper ist jetzt sicher schon auf halbem Weg nach Redwood City.«
»Redwood City?«, fragte der Lieutenant. »Wieso denn nach Redwood City?«
»Elmwood Foundation finanziert ein Forschungscenter für Kälteerzeugung in Redwood. Wir können ihn dort so lange auf Eis legen, wie wir wollen.«
»Und was werden wir damit tun?« Ich wies auf den düsteren Schatten in der Intensivstation. »Wir können da doch nicht einfach zusehen.«
Lieutenant Stroud sah mich ungeduldig an, als ob er sagen wollte, dass ich mich doch verdammt noch mal um meine eigenen Angelegenheiten kümmern solle, aber er ging zu Jim und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter.
»Doktor«, sagte er. »Ist das Ding eine Bedrohung für menschliche Leben? Für das Leben Ihrer Belegschaft?«
Jim leckte sich über die Lippen. »Dafür habe ich noch keinen Beweis. Bis jetzt habe ich nur außergewöhnliche physiologische Abnormitäten beobachtet. Es hat uns noch nicht bedroht.«
George Thousand Names mischte sich ein. »Coyotes Existenz ist eine Bedrohung! Sobald das Blut wieder in seinen Adern pocht, wird er uns in Stücke reißen!«
»Haben Sie dafür Beweise?«, fragte Lieutenant Stroud. »Ich zweifle nicht an Ihrem Wort, Sir, aber das Ding da drinnen ist ja irgendwie menschlicher Natur und ich kann keine menschlichen Wesen erschießen, es sei denn, ich hätte triftige Gründe zu glauben, dass sie Leben oder Eigentum bedrohen.«
George Thousand Names stand starr wie der Stachel eines Stachelschweins, seine Augen schleuderten Blitze. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Intensivstation. »Lieutenant, das ist Coyote! Er ist aus der Unterwelt zurückgekehrt! Was kann ich Ihnen noch sagen? Das ist Coyote!«
Lieutenant Stroud schaute zu den beiden Polizisten hinüber – einer von ihnen hob seine Augenbrauen, als wollte er damit sagen, George Thousand Names habe nicht alle Tassen im Schrank.
»Was meinen Sie, Doktor?«, fragte der Lieutenant Dr. Weston. »Ist das ein indianischer Dämon? Oder ist es nur ein medizinisches Monstrum?«
Obwohl Dr. Weston noch zitterte von dem, was sie in der Intensivstation gesehen hatte, antwortete sie: »Es ist ein Monstrum. Es muss eines sein. Ich habe noch nie so etwas gesehen, aber wir können es nicht töten.«
»Angenommen …«, begann Dr. Jarvis.
»Nichts angenommen!«, unterbrach Dr. Weston. »Jim, dieses Geschöpf ist das seltsamste medizinische Ereignis, das wir je gesehen haben. Es ist, als wären siamesische Zwillinge vor unseren Augen entstanden. Wir können es jetzt nicht zerstören. Auf keinen Fall!«
»Dr. Weston«, meldete ich mich, »Sie haben nicht gesehen, wie Bryan Corder verletzt wurde. Sie waren nicht dabei, als die Augen von Dan Machin aufleuchteten wie die des Teufels … Was auch immer da drinnen ist, ob ein Dämon oder nicht, wir müssen unbedingt sichergehen, dass es nicht noch jemanden tötet!«
Dr. Weston wollte gerade antworten, aber dazu kam sie nicht mehr. Was jetzt passierte, war wie ein Autobahnunfall. Er rauschte so schnell an meinen Augen vorbei, dass ich es kaum begreifen konnte. Ich erinnere mich aber noch an zwei lebhafte und schreckliche Dinge, und ich nehme an, dass ich sie nie vergessen werde.
Jim rief plötzlich: »Es kommt hier entlang!«
Als wir uns umdrehten, um auf die Intensivstation zu schauen, hörten wir schon das Klirren zerspringenden Glases. Tausend Teile der Beobachtungsscheibe schwirrten durch den Raum. Einer der Polizisten fiel sofort auf die Knie, sein Gesicht sah aus wie zerhackte Leber, der andere drehte sich zur Seite und hielt die Hände über die Augen – Blut rann durch seine Finger. Meine eigenen Wangen wurden in dem Splitterregen zerschnitten, aber es war nicht das Glas, was mich erstarren ließ.
Es war Coyotes Erscheinung: Aufgerichtet wie eine riesige, bleiche Gottesanbeterin, den grinsenden Schädel regungslos auf dem formlosen Rumpf, drückte er mit seinen vier Armen die Reste der Glaswand beiseite, ohne Zeit zu verlieren.
Und mit ihm kam diese Hitze. Die entsetzliche, glühende Hitze. In der Intensivstation mussten 200 Grad herrschen, und jetzt drang von dort ein trockener, sengender Wind mit Geheul heraus, während Coyote durch das zerbrochene Fenster schnellte.