»Aber ich habe es Ihnen doch gerade gesagt. Er hat kein Asthma.«
Dr. Jarvis senkte den Kopf und sagte ruhig: »Würden Sie jetzt hier verschwinden. Die Besuchszeit ist zu Ende und das Letzte, was ich brauche, sind altkluge Ratschläge. In Ordnung?«
Ich wollte noch etwas erwidern, doch dann riss ich mich zusammen. Wahrscheinlich wäre ich selbst genauso verdrießlich gewesen, wenn jemand in mein Büro gekommen wäre, um mir klarzumachen, wie man Wanzen ausrottet. Ich hob die Hände mit einer versöhnlichen Geste. »Okay. Ich verstehe. Tut mir leid.«
Die Schwester öffnete die Tür und trat ins Zimmer, während ich mich umdrehte, um zu gehen.
»Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Dr. Jarvis. »Aber ich weiß, was ich tue. Sie können um fünf Uhr wiederkommen, wenn Sie wollen. Bis dahin werden wir etwas mehr wissen.«
In dieser Sekunde hörten wir einen schrillen Entsetzensschrei aus Dans Zimmer. Dr. Jarvis sah mich an und ich ihn, und dann stießen wir beide die Tür weit auf und liefen ins Zimmer. Was ich jetzt sah, konnte ich nicht glauben. Es geschah vor meinen Augen, aber ich konnte es nicht glauben.
Die Schwester stand erstarrt vor Schreck neben Dan Machins Bett. Dan selbst saß aufrecht im Bett, in einem blau gestreiften Krankenhausschlafanzug, dies war so weit völlig normal und gewöhnlich. Doch Dans Augen … grauenvoll. Seine Brille lag auf dem Boden. Seine Augen waren blutunterlaufen – es waren die Augen eines bösen Hundes, die in der Nacht von einer Taschenlampe erfasst werden, oder vielleicht sehen so die Augen eines Dämons aus.
Er atmete ein und aus, ein und aus, mit den tiefen, stöhnenden Atemzügen, die wir in Seymour Wallis’ Haus in der vergangenen Nacht gehört hatten, dieses schwere endlose Atmen eines Schläfers, der nie mehr erwachen kann. Dan atmete wie das Haus selbst, wie alles, das uns in den düsteren, alten Räumen Angst eingeflößt hatte. Und es schien, als ob das Krankenzimmer mit jedem Atemzug kälter wurde.
»Mein Gott! Was ist das?«, keuchte Dr. Jarvis.
2
Eines der schlimmsten Dinge, die man im Leben entdecken kann, ist, dass einige von uns es draufhaben – und andere eben nicht. Ich schätze, dass es so auch ganz richtig ist. Hätte jeder junge Mann das Talent, Flugzeuge zu fliegen, Rennwagen zu fahren oder in einer Nacht 20 Frauen zu lieben, dann würde es wohl nicht mehr viele Freiwillige geben, die verstopfte Kanalrohre reinigten. Aber es ist immer schwer, wenn man entdeckt, dass man selbst es nicht draufhat und man anstatt ein luxuriöses Leben voller Spaß und Anerkennung in Beverly Hills zu führen, einem Job von neun bis fünf Uhr im öffentlichen Dienst nachgehen muss.
Ich bin das Kind von klugen, wohlhabenden Eltern aus Westchester, New York. Als mein Vater einen Schlaganfall erlitt, verließ ich meine Mutter mit ihrem Haus und ihrem Versicherungsgeld und machte mich auf nach Westen. Ich glaube, ich wollte Fernsehmoderator werden oder etwas ähnlich Grandioses, doch nachher war ich froh, überhaupt etwas zum Essen zu verdienen.
Ich habe eine Frau geheiratet, die sieben Jahre älter war, hauptsächlich, weil sie mich an meine Mutter erinnerte, und zum Glück reichte sie die Scheidung ein, nachdem sie mich mit einer Serviererin aus dem Fox im Bett ertappte. Diese Affäre ging ebenfalls in die Brüche. So blieb ich alleine zurück – mittellos. Ich musste nun zum ersten Mal in meinem Leben für mich selbst sorgen, zu mir selbst finden und mir klar darüber werden, was ich wirklich erreichen konnte und was nicht.
Mein Name ist John Hyatt, einer dieser Namen, von denen die Leute glauben, dass sie ihn nicht vergessen werden, aber sie vergessen ihn doch. Ich bin 31, ziemlich groß und ich trage gerne dunkle, gut geschnittene Sportjacken und weite graue Hosen im Stil der 50er-Jahre. Ich lebe allein im obersten Stockwerk eines Apartmentblocks in der Townsend Street, mit meiner Stereoanlage, meinen Topfpflanzen und meiner Sammlung von Taschenbüchern mit zerknitterten Buchrücken.
Ich glaube, dass ich hier mit meiner Arbeit eigentlich glücklich und zufrieden bin – aber sind Sie schon einmal abends ausgegangen, an irgendeinen ruhigen Ort, haben über eine Bucht geschaut, mit den zwinkernden Lichtern, wie es sie überall in Amerika gibt, und dann kam ihnen der Gedanke: Hey, das kann doch wirklich nicht alles im Leben sein?
Glauben Sie jetzt nicht, dass ich einsam bin. Bin ich nicht. Ich verabrede mich sogar öfter mit Frauen und habe gute Freunde, die mich zu Swimmingpool-Partys und zu Barbecues einladen. Aber an dem Abend, als wir zum Haus von Seymour Wallis gingen, machte ich gerade eine Phase der Antriebslosigkeit durch und war mir nicht sicher, was ich eigentlich vom Leben erwartete oder was das Leben von mir erwartete. Ich schätze, dass eine Menge Menschen dasselbe fühlten, als Präsident Carter gewählt wurde. Bei Nixon wusste man wenigstens, auf welcher Seite man stand.
Eventuell half mir das, was mit Dan Machin passiert war, wieder zu meiner alten Selbstsicherheit zu finden. Das war etwas so Unheimliches, so Entsetzliches, dass man an nichts anderes mehr denken konnte. Sogar einige Sekunden nachdem wir ins Zimmer gestürzt waren, Dan seine Augen geschlossen hatte und auf sein Kissen zurücksank, zitterte ich noch vor Schock und Entsetzen. Ich spürte die prickelnde Spannung der Angst bis in meine Handflächen.
Die Krankenschwester stammelte: »Er … er …«
Dr. Jarvis trat vorsichtig an Dans Bett, nahm sein Handgelenk und prüfte den Puls. Dann atmete er tief ein und hob eines von Dans Augenlidern. Ich bemerkte, dass ich einen Schritt zurücktrat – nur für den Fall, dass das Auge noch immer in dieser roten Farbe glühte, doch dem war nicht so. Es sah wieder normal grau aus, aber es war offensichtlich, dass Dan wieder bewusstlos geworden war.
»Schwester, ich brauche sofort eine gesamte Diagnoseausrüstung hier. Und lassen Sie Dr. Foley ausrufen.«
Die Schwester nickte und verließ den Raum. Man merkte ihr an, dass sie froh war, etwas tun zu müssen, das sie ablenkte.
Ich trat an Dans Bett und schaute auf sein blasses, fiebriges Gesicht. Er sah gar nicht mehr wie der gewitzte Hinterwäldler aus Kansas aus. Die Falten um seinen Mund waren zu tief und seine Blässe zu weiß. Immerhin atmete er wieder normal.
Ich schielte rüber zu Dr. Jarvis. Er kritzelte etwas auf seinen Notizblock, sein Gesichtsausdruck war gleichzeitig konzentriert und besorgt.
»Wissen Sie, was das war?«, fragte ich leise.
Er sah weder auf, noch gab er eine Antwort.
»Diese roten Augen. Wissen Sie, wodurch so etwas hervorgerufen werden kann?«
Er hielt im Schreiben inne und starrte mich an. »Ich möchte zu gern wissen, was es mit dem Atmen gestern Abend auf sich hat, mit dem Sie beide zu tun hatten. Sind Sie sich absolut sicher, dass keine Drogen im Spiel waren?«
»Hören Sie, das würde ich Ihnen doch sagen. Es hatte etwas mit einem Haus oben in Pilarcitos zu tun.«
»Ein Haus?«
»Genau. Wir arbeiten beide für das Gesundheitsamt. Der Besitzer hat uns gebeten, sein Haus zu untersuchen und dessen Atmen zuzuhören. Er sagte, dass sein Haus ein atmendes Geräusch machen würde, und er wusste nicht, was es war.«
Dr. Jarvis prüfte wieder Dans Puls. »Haben Sie herausgefunden, was es verursacht hat?«, fragte er. »Ich meine, dieses Atmen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass Dan eben genauso geatmet hat. Es ist fast so, als sei das Atmen des Hauses auf ihn übergegangen. Als ob er davon besessen ist.«
Dr. Jarvis legte seinen Block neben Dan Machins Schüssel mit Weintrauben. »Sind Sie ein aktives Mitglied im Club der Verrückten oder nur ein zahlendes?«, fragte er.
Dieses Mal spielte ich nicht den Beleidigten. »Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist«, sagte ich. »Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber Besessenheit scheint mir der richtige Ausdruck. Ich habe das Haus atmen hören und ich hörte Dan atmen, als seine Augen ganz rot waren. Es klang ganz genauso.«