Sie erklommen die letzte Anhöhe.
"Junge!" flüsterte Jim.
Der Zug war auf Rolfes Mondwiese abgebogen. Sie hieß so, weil die jungen Pärchen der Gegend hierherkamen, um den Mond über einem weiten, unendlichen Land stehen zu sehen, über einem Binnenmeer, das im Frühjahr voller Gras und im Herbst voller Heu und voller knirschenden Schnees im Winter war. Es war ein schöner Spazierweg, am Ufer des geheimnisvollen Binnenmeers entlang, wenn der Mond sich zitternd über das Gewoge erhob.
Der Zug jedenfalls duckte sich nun auf dem alten Bahngleis ins hohe Gras, drüben am Waldrand, und die Jungen kauerten wartend hinter einem Busch.
"Es ist so still", flüsterte Will.
Der Zug stand mitten auf der gemähten Herbstwiese.
Niemand auf der Lokomotive, niemand auf dem Tender, niemand in den Wagen dahinter, alle schwarz im Schein des Mondes. Metall kühlte sich klickend ab.
"Psst!" machte Jim. "Ich spüre sie, wie sie sich dort bewegen."
Will spürte die Gänsehaut tausendfach am ganzen Körper.
"Glaubst du, sie haben etwas dagegen, daß wir ihnen zusehen?"
"Möglich", gab Jim fröhlich zurück.
"Warum dann der Lärm der Zirkusorgel?"
"Wenn mir das einfällt, sag ich's dir." Jim lächelte.
"Sieh mal!" Flüstern.
Ein riesiger, moosgrüner Ballon berührte den Mond, als käme er geradewegs vom Himmel.
Zweihundert Meter entfernt, zweihundert Meter hoch verhielt er und schwankte lautlos in der Luftströmung.
"Der Korb unter dem Ballon – da ist jemand drin!"
Aber dann stieg ein hochgewachsener Mann vom Führerstand des Zuges, wie ein Kapitän, der die Untiefen dieses Binnenmeeres ausloten will. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht lag im Schatten. So watete er bis zur Mitte der Wiese. Sein Hemd war so schwarz wie die Handschuhe an den Händen, die er zum Himmel emporstreckte.
Er machte eine Handbewegung. Einmal nur.
Der Zug erwachte zum Leben.
Ein Kopf tauchte an einem Fenster auf, dann ein Arm, dann noch ein Kopf – wie Marionetten auf der Bühne.
Plötzlich trugen zwei schwarzgekleidete Männer einen dunklen Zeltmast durch das raschelnde Gras.
Die Stille war es, die Will zurückschrecken ließ, während Jim sich mit mondhellen Augen gespannt vorbeugte.
In einem Zirkus sollte man Knurren und Brüllen hören wie im tiefen Wald und ganze Wolken von Staub sehen, aufgewirbelt von den Löwen; Männer müssen geschäftig herumrennen, Flaschen klirren, Futtereimer klappern, Maschinen und Elefanten stampfen, Zebras seufzen, eingeschlossen in doppelten Käfigen.
Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarzweiße Bühne voller Geister, die ihre Lippen bewegten; mondweiß stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille, daß man den Wind in den Härchen auf der Backe flüstern hörte.
Weitere Schatten entstiegen dem Zug und huschten an den Käfigen vorbei, in denen die Finsternis mit blicklosen Augen lauerte. Auch die Zirkusorgel schwieg, bis auf die Andeutung eines verrückten Liedes, das der Wind den Orgelpfeifen entlockte.
Der Zirkusdirektor stand mitten auf dem freien Feld.
Der Ballon hing wie ein riesiger, grünverschimmelter Käse regungslos am Himmel. Dann senkte sich die Dunkelheit über alles herab.
Als die Wolken den Mond verhüllten, sah Will gerade noch, wie der Ballon herabschwebte.
In der schwarzen Nacht spürte er, wie die Männer sich unsichtbar an die Arbeit machten. Der unsichtbare Ballon kam ihm vor wie eine fette Spinne im Netz. Er machte sich an Masten und Tauen zu schaffen und zog Stoff in die Höhe.
Die Wolken lichteten sich. Der Ballon stieg auf.
Auf der Wiese ragten die Masten auf, das Skelett des Hauptzeltes, das nur noch auf die Zeltbahnen wartete.
Wieder schoben sich Wolken vor den weißen Mond.
Will erschauderte im Schatten. Er hörte Jim wegkriechen, packte seinen Fuß und spürte, wie seine Muskeln erstarrten.
"Warte!" raunte Will. "Sie ziehen gerade die Zeltbahnen auf."
"Nein", sagte Jim. "O nein..."
Auf geheimnisvolle Weise wußten es beide: Die Drähte und Taue hoch droben an den Masten fingen die vorbeifliegenden Wolken ein, entrissen dem Wind ganze Bahnen von ihnen; ein großes Schattenungeheuer nähte sie aneinander, eine neben die andere, bis das Zelt Gestalt annahm. Endlich vernahmen sie das klatschende Geräusch der im Wind flatternden riesigen Fahnen.
Die Bewegung hörte auf. Dunkelheit ruhte wieder regungslos in der Dunkelheit.
Will lag mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Schlag der gewaltigen pechschwarzen Schwingen, als sei ein riesiger Urvogel zum Leben erwacht, hier, auf der nachtschwarzen Wiese.
Die Wolken flogen davon. Der Ballon war verschwunden.
Die Männer waren fort.
Der Wind ließ Wellen wie schwarzen Regen über das fertige Zelt rinnen.
Plötzlich erschien der Weg zurück zur Stadt unendlich weit.
Will blickte instinktiv über die Schulter. Nichts als Gras und leises Flüstern.
Langsam wandte er den Blick wieder dem schweigenden, dunklen, scheinbar leeren Zelt zu.
"Das gefällt mir nicht", sagte er.
Jim konnte seinen Blick nicht abwenden. "Ja", flüsterte er nur. "Ja!"
Will stand auf. Jim lag noch flach am Boden.
"Jim!" rief Will.
Jims Kopf flog herum, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er kniete und raffte sich schwankend auf.
Sein Körper drehte sich um, doch sein Blick war immer noch auf diese schwarzen Fahnen geheftet, die großen Banner und Transparente, die mit ungeahnten Schwingen, mit Hörnern und dämonenhaftem Grinsen sich regten.
Ein Vogel schrie auf. Jim erschrak.
Wolkenschatten jagten sie in blinder Flucht bis an den Stadtrand. Von da aus rannten die beiden Jungen von ganz allein weiter.
Dreizehntes Kapitel
Kalter Wind blies durch das weitgeöffnete Fenster in die Bibliothek.
Charles Halloway stand schon seit einer ganzen Weile hier. Nun zuckte er zusammen.
Unten flogen zwei Schatten die Straße entlang, Schritt um Schritt begleiteten sie ihre größeren Schatten. Leise malten sie Fußspuren in die Nachtluft.
"Jim!" rief der alte Mann. "Will!"
Doch seine Stimme klang nicht sehr laut.
Die Jungen rannten weiter, nach Hause.
Charles Halloway blickte über das Land.
Er war allein durch die Gänge der Bibliothek gewandelt, und sein Besen hatte ihm Dinge zugeflüstert, die kein anderer hörte; da hatte er den Zug und das disharmonische Klingen der Zirkusorgel vernommen.
"Drei Uhr", murmelte er. "Drei Uhr morgens..."
Draußen auf der Wiese wartete das Zelt, wartete der Zirkus. Sie warteten auf jemanden, der die Brandung des Grasmeeres entlangkommen sollte. Die großen Zelte blähten sich wie Blasebälge. Dann atmeten sie ganz leise eine Luft aus, die nach urtümlichen gelben Ungeheuern roch.
Doch nur der Mond blickte in das dunkle Loch, die tiefen Höhlen. Draußen verharrten am Karussell die Tiere der Nacht mitten im Sprung, Dahinter lagen die Tiefen des Irrgartens mit vielfältigen Trugbildern, eines überlagerte das andere, still, erhaben, silbern vom Alter, weiß vom Schnee der Zeit. Jeder Schatten am Eingang konnte Farben der Angst erzittern lassen und tief vergrabene Monde enthüllen.
Wenn dort ein Mensch stünde – würde er sich dann millionenmal sehen können, eine endlose Kette bis hin zur Ewigkeit? Würden ihn eine Million Abbilder anstarren, eines hinter dem anderen, eines älter als das andere? Würde er dort in feinem Staub versinken, tief drin, nicht fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt, sondern neunzig, neunundneunzig Jahre?