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Das Mädchen an der Kasse streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. Will kam langsam zu Miss Foley zurück.

"Ich kann's beschwören, Miss Foley – da ist weder vor noch nach Ihnen jemand reingegangen. Ich bin schuld, ich hab den Witz mit dem Wasser gemacht, das muß Sie durcheinandergebracht haben. Sie haben sich dann verirrt und hatten Angst..."

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Ihre Zähne gruben sich in ihren Handrücken, ihre Stimme klang wie die einer Ertrinkenden, die – fast schon erstickt – aus dem Wasser auftaucht, die keine Hoffnung mehr hatte und nun plötzlich wieder lebt.

"Niemand drin? Sie liegt ganz tief auf dem Grund. Armes Mädchen. Ich hab sie gut gekannt. ›Ich kenne dich!‹ sagte ich, als ich sie vorhin sah. Ich winkte, sie winkte zurück. ›Hallo!‹ Ich rannte auf sie zu – bums, da fiel ich hin. Sie fiel hin. Tausendmal fiel sie hin. ›Warte!‹ rief ich. Sie sah so hübsch aus, so jung. Aber das machte mir angst. ›Was machst du denn hier drin?‹ fragte ich sie. Ich glaube, sie hat geantwortet: ›Wieso? Ich bin doch wirklich – aber du nicht!‹ Dann lachte sie, tief drunten im Wasser. Sie rannte zwischen den Spiegelbildern davon. Wir müssen sie finden, bevor..."

Will legte seinen Arm um Miss Foley und hielt sie fest.

Sie holte noch einmal tief Luft, dann wurde sie seltsam still. Jim starrte tief in die kalten Spiegel hinein und suchte vergebens nach Haien.

"Miss Foley, wie sah sie denn aus?" fragte er.

Miss Foleys Stimme klang matt, aber ruhig. "Nun, eigentlich – eigentlich sah sie aus wie ich vor vielen, vielen Jahren."

Dann sagte sie: "Ich gehe jetzt nach Hause."

"Miss Foley, wir..."

"Nein. Bleibt ruhig hier, es geht schon wieder. Viel Spaß!"

Langsam ging sie weg, den breiten Weg entlang, sehr allein.

Irgendwo ließ ein großes Tier Wasser.

Ammoniakgeruch machte den vorbeistreifenden Wind sehr alt.

"Ich gehe", sagte Will.

"Will – wir bleiben bis zum Abend, bis es dunkel wird. Wollen doch alles ansehen. Oder willst du kneifen?"

"Nein", murmelte Will. "Aber wer will noch einmal in den Irrgarten hineintauchen?"

Jim starrte wütend in die grundlose See, wo sich jetzt nur noch das Licht spiegelte, Leere vor ihren Augen.

"Niemand." Sein Herz klopfte zweimal. "Ich glaube, niemand..."

Sechzehntes Kapitel 

Bei Sonnenuntergang geschah etwas Schlimmes. Jim  verschwand.

Am Vormittag und Nachmittag hatten sie lärmend alle  Karussells ausprobiert, schmutzige Milchflaschen  umgeworfen, nach Ringen geangelt und sich mit offenen  Ohren, Augen und Nasen ihren Weg durch die quirlende  Menge gebahnt, die auf Laub und Sägespänen  herumtrampelte.

Dann war Jim auf einmal fort.

Will brauchte keinen zu fragen außer sich selbst.  Zielsicher steuerte er durch die dünner werdende  Menschenmenge unter dem Himmel, der sich  pfirsichfarben rötete, bis er das Spiegelkabinett erreichte.  Er bezahlte seinen Eintritt, tastete sich zwischen die  Spiegel hinein und rief halblaut, aber nur einmal.

"Jim?"

Da war Jim. Halb versank er im kalten Glas, halb ragte er daraus hervor wie jemand, den man am Meeresufer  allein gelassen hat, während sein guter Freund weit  hinausgeschwommen ist. Da stand er nun und wartete, ob  er jemals zurückkommen würde. Jim sah aus, als hätte er  seit mindestens fünf Minuten keinen Finger gerührt, mit  keiner Wimper gezuckt. Mit offenem Mund lauschte er  der nächsten Woge entgegen, ob sie ihm mehr über den  verlorenen Freund erzählen konnte.

"Jim! Komm hier heraus!"

"Will, laß mich in Ruhe!" Er seufzte leise.

"Den Teufel werd ich!" Will stand mit einem Satz  neben Jim, packte ihn beim Gürtel und zog. Jim schien  nicht einmal zu bemerken, daß er rücklings herausgezerrt  wurde, so versunken war er in den Anblick eines  unsichtbaren Wunders.

Leise protestierte er: "Will, ach,  Will! O Will..."

"Jim, du bist übergeschnappt! Ich bring dich nach  Hause."

"Was? Wie? Was?"

Sie standen im kalten Abendwind. Der Himmel war  inzwischen dunkler als eine Pflaume. Hoch droben  brannten ein paar Wolken im letzten Feuer der Sonne.  Das Licht spiegelte sich auf Jims fiebrigen Wangen,  seinen geöffneten Lippen, seinen großen tiefgrünen  Augen.

"Jim, was hast du da drin gesehen? Dasselbe wie Miss  Foley?"

"Was? Was?"

"Ich hau dir die Nase ein! Komm jetzt!" Will zerrte,  schob und stieß. Er mußte seinen fiebernden,  selbstvergessenen Freund halb tragen.

"Kann's dir nicht sagen. Glaubst es doch nicht. Kann's  dir nicht sagen, was ich da drin... Oh, da drin, da drin..."

"Halt den Schnabel!" Will packte ihn beim Arm.  "Machst mir genauso angst wie sie! Blödsinn! Bald Zeit  zum Essen. Zu Hause glauben sie schon, wir sind tot und  begraben."

Sie schritten nun rasch aus. Ihre Sohlen drückten das  nach Heu duftende Herbstgras nieder, die laubbestreuten  Wiesen außerhalb der Zelte. Will blickte zur Stadt, Jim  zurück zu den Zelten, zu den dunkler werdenden Fahnen,  wo die Sonne sich unter der Erde versteckte.

"Will, wir müssen noch einmal hin. Heute nacht..."

"Schön, dann gehst du allein hin."

Jim blieb stehen.

"Du läßt mich ja doch nicht allein gehen. Du bist  immer um mich herum, Will. Warum? Um mich zu  beschützen?"

"Als ob du Schutz brauchst!" Will lachte, aber dann  brach sein Lachen ab; denn Jim sah ihn an, und das letzte  Licht erstarb auf seinen Lippen, in seinen Nasenlöchern,  um die plötzlich tiefliegenden Augen.

"Du bist einfach immer bei mir, wie, Will?"

Jims warmer Atem traf ihn. In seinem Blut regte sich  die alte, vertraute Antwort: Ja, ja, du weißt es doch – ja!

Gemeinsam stolperten sie über eine riesige dunkle  Ledertasche.

Siebzehntes Kapitel 

Lange Zeit standen sie über die große Ledertasche  gebeugt. Dann versetzte ihr Will fast verstohlen einen  Tritt. In ihren Eingeweiden klapperte es wie Eisen.

"Schau mal – die gehört dem Blitzableiterverkäufer!"  sagte Will.

Jim schob eine Hand ins lederne Maul und holte einen metallenen Stab heraus, bedeckt mit Chimären,  chinesischen Drachen, zähnefletschend, augenrollend,  moosgrün gepanzert, alles wirr durcheinander. Jedes  Symbol der ganzen Welt, das den Menschen Sicherheit  verlieh oder von dem man das zumindest glaubte, war  hier vertreten. Schwer von geheimnisvoller Bedeutung  lag das Ding in der Hand des Jungen.

"Das Gewitter ist ausgeblieben. Aber er ist fort."  "Wohin? Und warum hat er seine Tasche  zurückgelassen?" Sie blickten beide zurück zum Zirkus,  wo die Dämmerung die Zeltbahnen dunkel anmalte.  Kalte Schatten ergossen sich über die Wiese und hüllten  sie ein. Leute fuhren müde mit den Autos nach Hause.  Jungen auf Fahrrädern pfiffen hinter Hunden her. Bald  gehörte der breite Mittelweg der Nacht, und die Schatten  fuhren auf dem Riesenrad empor, um die Sterne zu  verdunkeln. Jim sagte: "Man läßt doch nicht sein ganzes  Leben so herumliegen. Das war alles, was der alte Mann  besaß. Etwas Wichtiges..." Sein Atem war wie warme  Glut. "Etwas Wichtiges muß geschehen sein, daß er sie  vergessen hat. Er ist einfach weggegangen und hat die  Tasche liegengelassen."

"Aber was? Was ist so wichtig, daß man alles  vergißt?" Jim betrachtete seinen Freund mit seltsamem  Ausdruck. Zwielicht umschattete sein Gesicht. "Nun, das  kann dir keiner sagen. Du mußt selbst dahinterkommen.  Geheimnisse über Geheimnisse. Ein Gewitterverkäufer.  Die Tasche eines Gewitterverkäufers. Wenn wir nicht  gleich nachsehen, erfahren wir es vielleicht nie."