Er stieß die aufgestaute Luft aus.
Sie schmeckte warm wie der Sommer auf seinen Lippen.
Seine Hand berührte die Tür. Sie ließ sich öffnen. Arktischkalte Luft umwehte ihn. Er trat ein.
Die Tür fiel zu.
Helle Nachtfalter tappten gleich Schneeflocken ans Fenster.
Elftes Kapitel
Mitternacht. Von den Türmen der Stadt schlug es zwölf und eins und zwei und dann drei. Die harten Glockenschläge ließen den Staub von alten Spielsachen hoch oben in den Dachspeichern auffliegen und das Silber von noch älteren Spiegeln in anderen Speichern abbröckeln. Sie weckten Träume von Uhren bei allen schlafenden Kindern.
Will hörte es.
Gedämpft, weit draußen in der Prärie, war das Stampfen einer Lokomotive und das langsame Rollen des Zuges.
Will setzte sich im Bett auf.
Auf der anderen Straßenseite setzte sich wie ein Spiegelbild Jim in seinem Bett auf.
Eine Jahrmarktsorgel begann wundersam weich und leise zu spielen, so unsagbar traurig, Millionen Meilen entfernt.
Mit einem Ruck war Will aus dem Bett und beugte sich weit aus dem Fenster – genau wie Jim drüben. Wortlos starrten sie über die Baumwipfel hinweg.
Ihre Zimmer lagen hoch, wie die Zimmer von echten Jungen liegen sollen. Von ihren Fenstern aus hatten ihre Blicke freies Schußfeld über Bibliothek und Stadthaus, über Feuerwehrdepot, Scheunen und Farmhäuser hinweg bis in die unendliche Weite der leeren Prärie.
Dort, am Ende der Welt, krochen wie glitzernde Schlangen die Eisenbahnschienen dahin, dort reckten sich gestikulierend grüne und rote Signale den Sternen entgegen. Dort, am Rande der Erde, erhob sich ein Federwölkchen wie der Vorbote eines Gewitters.
Glied für Glied tauchte der Zug auf: Lokomotive, Kohlentender, viele schlafende Wagen, die dem Funkenregen folgten, summend, grollend wie ein Kaminfeuer im Herbst. Selbst aus dieser Entfernung konnte man sich starke Arme vorstellen, die meteorschwarze Kohlen in den feurigen Schlund der Dampfmaschine schaufelten.
Die Lokomotive!
Beide Jungen verschwanden und kamen mit Feldstechern zurück.
"Die Lok!"
"Uralt! Gibt's mindestens seit 1900 nicht mehr!"
"Auch der übrige Zug ist uralt!"
"Die Fahnen! Die Käfige! Es ist der Zirkus!"
Sie lauschten. Erst dachte Will seinen eigenen Atem zu hören, aber es war der Zug, die Orgel, die leise sang und stöhnte.
"Klingt wie Kirchenmusik."
"Hölle. Warum soll ein Zirkus Kirchenmusik spielen?"
"Sag nicht immer Hölle", zischte Will.
"Hölle." Jim beugte sich vor. "Hab's den ganzen Tag nicht sagen dürfen. Jetzt schlafen sie alle. Hölle!"
Die Klänge schwebten an den Fenstern vorbei. Will spürte die Gänsehaut auf seinen Armen.
"Wirklich, das ist Kirchenmusik!"
"Mir ist kalt. Los, gehen wir hin, schauen wir ihnen zu!"
"Um drei Uhr am Morgen?"
"Um drei am Morgen."
Jim verschwand. Will sah ihn drüben umhertanzen, Hemd und Hose überziehen, während der totenschwarze Zug übers Land keuchte, schwarz alle Wagen, lakritzschwarz. Eine alte Orgel spielte drei Hymnen durcheinander. Aber vielleicht war es auch nichts.
Jim glitt die Dachrinne hinab auf den schlafenden Rasen.
"Jim! Warte!"
Will schlüpfte blitzschnell in die Kleider.
"Jim, geh doch nicht allein hin!"
Und er rannte ihm nach.
Zwölftes Kapitel
Manchmal sieht man hoch oben am Himmel einen Papierdrachen, so weise, daß er den Wind kennt. Er fliegt, dann stürzt er auf einen bestimmten Fleck zu. Man kann an der Schnur ziehen, daß sie fast reißt, es ist zwecklos, man kann rennen, der Drache sucht sich doch seinen Landeplatz.
"Jim! Wart auf mich!"
Jim war jetzt dieser Drache, und die Schnur war durchschnitten. Sein Wissen um den Wind trug ihn von Will hinweg. Der konnte nur rennen, erdgebunden, wohin der andere flog, hoch, dunkel, still und plötzlich so fremd.
"Jim! Ich komme!"
Im Laufen dachte Wilclass="underline" Es ist immer dasselbe. Er rennt. Ich rede. Ich drehe Steine um. Jim greift in den kalten Schlick darunter. Ich erklimme Hügel. Jim schreit von der höchsten Kirchturmspitze herab. Ich habe ein Sparkonto. Jim hat nur das Haar auf seinem Kopf, den Schrei auf seinen Lippen, das Hemd am Leibe und die Tennisschuhe an den Füßen. Warum erscheint er mir reicher? Weil ich auf einem Stein in der Sonne sitze, dachte Will, während Jims Haare auf den Armen im Mondschein knistern und er mit Kröten tanzt. Ich hüte Kühe. Jim zähmt Ungeheuer. Narr, schreie ich Jim an. Feigling, schreit er zurück. Und wir – rennen!
Sie rannten aus der Stadt, über die Felder und blieben dann regungslos unter der Eisenbahnbrücke stehen. Der Mond lauerte hinter den Hügeln, die Wiesen erbebten unter einem Gespinst von Tau.
Dann donnerte der Zug über die Brücke. Die Zirkusorgel wimmerte. "Aber – es spielt sie doch keiner!" Jim starrte hinauf.
"Jim, laß die üblen Späße!"
"Ganz ehrlich – sieh doch selbst!"
Die blanken Pfeifen der Zirkusorgel glitten im Sternenlicht dahin, immer weiter, aber niemand saß am Spieltisch. Der Wind spielte mit eisigem Hauch in den Orgelpfeifen.
Die Jungen rannten. Der Zug kurvte davon. Wie aus tiefer See, verrostet, mit grünem Moos überwachsen, läutete die Glocke zum Begräbnis, läutete, läutete. Dann stieß die Dampfpfeife eine große weiße Wolke aus, und Will spürte eiskalte Perlen auf der Stirn.
Wie oft hatte Will mitten in der Nacht den Zug pfeifen gehört? Die Dampfpfeife stößt weiße Wolken aus, die den Schlaf säumen, verloren, allein und fern, und sei der Zug noch so nahe. Manchmal wachte er mit Tränen auf der Wange auf und fragte sich: Warum? Er legte sich wieder ins Kissen zurück und dachte: Ja, sie bringen mich zum Weinen, wenn sie nach Osten fahren, nach Westen fahren, so tief im Land sich verlieren, daß sie im Traum versinken.
Diese Züge und ihr Klagelaut gingen auf ewig zwischen den Bahnhöfen verloren. Sie wußten nicht, woher sie kamen, hatten keine Ahnung, wohin sie gingen, hauchten ihren letzten weißen Atem am Horizont aus, waren fort. So geht es mit allen Zügen, immer und immer.
Doch der Pfiff dieses Zuges...
Das Heulen und Klagen eines ganzen Lebens lag darin, gesammelt aus anderen Nächten, anderen schlummernden Jahren; das Heulen der Hunde in Vollmondnächten, das Brausen kalter Winde, die im Januar vom Fluß her durch das Geländer der Veranda pfeifen, bis das Blut in den Adern stockt; tausende jammernde Feuersirenen, schlimmer noch: letzte Atemzüge einer Milliarde Menschen, tot oder sterbend, die leben wollten, ihr Stöhnen, ihr Seufzen – das tönte hier über die Erde!
Wills Augen füllten sich mit Tränen. Er stolperte. Er kniete sich hin und tat so, als müsse er sich ein Schuhband schnüren.
Doch dann sah er, wie auch Jim sich an die Ohren griff, wie auch seine Augen naß wurden. Die Dampfpfeife brüllte – Jim brüllte mit ihr um die Wette. Die Pfeife schrillte – Jim schrie gegen sie an.
Dann verstummten plötzlich die Milliarden Stimmen, als ob der Zug in einem feurigen Wirbelsturm von der Erde verschwunden sei.
Leise glitt der Zug weiter. Schwarze Transparente flatterten, schwarzes Konfetti schwebte im süßlichen Wind den Hügel herab. Die Jungen liefen hinterher, und der Nachtwind war so kalt, daß sie mit jedem Atemzug Eiskrem aßen.