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Wie weit, weit weg das alles.

Und wie war das im Jahre 1929? Stalin stand hier im Bernsteinzimmer, in hohen Stiefeln und Pumphose, mit einem Bauernhemd und einem breiten Gürtel um den Leib, und der mächtige Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt:»Eure Geschichte hat man mir erzählt, Michail Igorowitsch. Zar Peter hat den ersten Wachterowskij mit dem Bernsteinzimmer geschenkt bekommen. So soll's bleiben. Hast du schon einen Sohn?«

«Elf Jahre ist er alt.«

«Wo ist er?«

«Versteckt hat er sich. Irgendwo im Palast. Angst hat er, der Junge.«

«Angst? Vor mir?«Stalin hatte gelacht, sein buschiger Schnurrbart hatte gebebt, und die dunklen, georgischen Augen blitzten.»Laß ihn suchen. Ich will ihn sehen. Angst! Vor mir braucht niemand Angst zu haben.«

Man suchte Nikolaj, aber man fand ihn nicht. Im riesigen Katharinen-Palast gab es hundert Ecken, Winkel und Keller, wo sich ein Kind verstecken konnte. Erst später, 1937, stand N-kolaj Wachterowskij vor Stalin, nun neunzehn Jahre alt, schmal, hochaufgeschossen, mit strohblonden Haaren wie seine Mutter Lydia Alexandrowna und deren azurblauen Augen. Und Stalin hatte gesagt, hier im Bernsteinzimmer stehend, vor einer Vase mit goldgelbem Bernsteinmosaik:»Du bist also der vorerst letzte Wachterowskij. Diesmal versteckst du dich nicht, was?«Er hatte es nicht vergessen, und es durchfuhr Nikolaj eiskalt und schmerzvoll.»Siehst du nun, junger Genosse: Vor mir braucht keiner Angst zu haben.«

Ein paar Tage danach ließ Stalin den Marschall Michail Nikola-jewitsch Tuchatschewskij erschießen und mit ihm eine Reihe anderer hoher Offiziere, weil sie Spione seien. Aber nur unbequem waren sie ihm, und einfach war es, das Unbequeme aus dem Weg zu räumen.

Stalin, der Mann, der jetzt gegen die Deutschen kämpfte, ihre Armeen aufhalten wollte, Rußland zu retten versuchte und Leningrad zu einer riesigen Festung werden ließ.

Vier Jahre erst war das her, man soll's nicht glauben. Es war das letztemal, daß Stalin das Bernsteinzimmer besucht und bewundert hatte.

Im Morgengrauen begann die deutsche Artillerie wieder zu schießen. Die Granaten verschonten das Schloß, schlugen in der Stadt Puschkin ein, durchlöcherten die Straßen und Wege nach Leningrad, verfolgten die zurückgehenden sowjetischen Truppen. Die Panzer der 1. Panzerdivision rollten auf Puschkin und den Katharinen-Palast zu, erreichten ohne Widerstand den Stadtrand von Puschkin und fuhren die breite, schöne Allee zum Palais hinauf.

Michael Wachter verließ sein Bernsteinzimmer, stellte sich wieder unter den Säuleneingang, so wie er in der Nacht Oberst Limonow nachgeschaut hatte. Sein Herz tat ihm weh, als er die graugrünen Stahlkolosse auf sich zurasseln sah, die Geschütztürme mit dem schwarzweißen Balkenkreuz. Die Kommandanten der Panzer standen in den hochgeklappten Luken und starrten auf den herrlichen Palast, als erlebten sie ein Märchen. Vor der großen Treppe hielten sie, kletterten aus den Türmen, sprangen auf den Boden und kamen, Pistolen in der Hand, auf Wachter zu. Ein Offizier, der an der Spitze lief, blieb vor Wachter stehen und stieß ihm den Lauf seiner Waffe gegen die Brust. Die anderen Soldaten stürmten an ihnen vorbei ins Schloß.

«Was stehst du hier rum?«fuhr ihn der Offizier an.»Wo sind die anderen? Wo Russki?«

«Ich bin kein Russe, Herr Hauptmann«, sagte Wachter ruhig und furchtlos.»Ich bin ein Deutscher wie Sie. Willkommen in Zarskoje Selo — «

Am Nachmittag waren die Säle und Prunkzimmer, die Wirtschaftsräume und Gesindezimmer, die Schlafgemächer der Zaren und die Bibliotheken voller Menschen in deutschen Uniformen. Von allen Seiten waren sie gekommen, um Quartier in diesem Palast zu nehmen, der zum Schönsten gehörte, was in Rußland je gebaut worden war. Vor allem die Stäbe mit ihren hohen Offizieren zogen in das Schloß ein und belegten die prunkvollsten Räume. An die herrlichen geschnitzten und mit Gold verzierten Türen hämmerten Soldaten die handgeschriebenen Pappschilder ihrer Einheiten, mit Richtungspfeilen von links oder nach rechts, mit Namen der Kommandeure oder auch nur Schreibstube oder WuG, was soviel hieß wie Waffen und Geräte.

Fünf Stäbe richteten sich häuslich im Katharinen-Palais ein: Der Stab des XXVIII. Armeekorps, der Stab der 16. Armee, der Stab des XLI. Panzer-Korps und die Stäbe der 96. und 121. Infanterie-Division. Die SS-Polizei-Division und die I. Panzer-Division, die Puschkin als erste erreicht hatten, waren weitergezogen und verfolgten die sowjetischen Truppen. Das Gedröhne der Geschütze lag wie ein ferner Donner über dem Land, unter dem Himmel brummten die deutschen Bombergeschwader nach Leningrad.

Michael Wachter hatte aufgeatmet, als die SS-Division an dem Schloß vorbei zum Nordteil der Stadt Puschkin zog, wo sich die letzten Rotarmisten wehrten, ein armseliger Riegel, der nur den Zweck verfolgte, Zeit zu gewinnen, die Stunden hinzudehnen, denn jede Stunde bedeutete ein Stück Graben, eine Bunkerwand, eine Geschützstellung mehr im Verteidigungsring um Leningrad.

Am 16. September 1941 war das Bernsteinzimmer in deutscher Hand, aber es stand noch unversehrt hinter den schützenden Holztafeln und Pappstreifen. Der Krieg war darüber hinweggerollt… und es lebte noch.

Ein glücklicher Mensch war Michael Wachter in diesen Stunden.

Am 17. September war auch der Nordteil von Puschkin von den sowjetischen Truppen geräumt worden. Die SS-Polizei-Division marschierte in die Stadt, der nachrückende Stab erschien vor dem Katharinen-Palast, um hier ebenfalls sein Hauptquartier einzurichten. Mit Schrecken starrte Wachter auf die Uniformen mit dem Totenkopf. Zum ersten Mal sah er SS-Offiziere und SS-Soldaten jener deutschen Division, die zur Elite gerechnet wurde und von der vor dem Krieg und erst recht jetzt im Krieg so viel geschrieben worden war. Gefürchtet waren die Männer mit dem Totenkopf, sie waren von allen deutschen Truppen am besten ausgerüstet, eine geballte Faust, deren Schlag Vernichtung hieß.

Ein SS-Gruppenführer — dem Rang eines Generals entsprechend — stieg die Stufen der großen Treppe hinauf, während der Stab vor dem Portal vorfuhr und wie zu einer Parade eine peinlich ausgerichtete Reihe von Fahrzeugen bildete. Noch hatte der SS-General nicht einmal die Hälfte der Treppe erstiegen, da erschien im Eingang des Palais der Kommandeur des XXVIII. Armeekorps und hob, kurz grüßend, die Hand an sein Mützenschild. Der SS-Gruppenführer erwiderte mit ausgestrecktem Arm, mit dem Hitlergruß.

«Ich nehme an, Herr Kamerad«, sagte der Kommandeur e> was steif —,»Sie haben die Absicht, hier Ihren Stab einzuquartieren.«

Der SS-Gruppenführer blieb auf der Treppe stehen, warf einen schnellen Blick auf die imposante Fassade des Schlosses und nickte.

«Braunfeld«, stellte er sich vor.»Heinrich Braunfeld.«

Der Panzergeneral lächelte mokant. Ausgerechnet Braunfeld, dachte er, und dann Befehlshaber einer SS-Division. Und Heinrich heißt er auch noch, wie sein Chef Heinrich Himmler. Kompletter geht's nicht mehr.

«Von Kortte«, sagte er noch steifer.»Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß wir für einen neuen Stab keinen Platz mehr haben.«

SS-Gruppenführer Braunfeld blickte wieder die Schloßfassade entlang und schüttelte den Kopf. Was will er, dachte er. Dieser Affe mit den roten Streifen an der Hose!» Das Schloß ist groß genug. Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihr Stab über hundert Zimmer braucht.«

«Es befinden sich zur Zeit fünf Stäbe im Katharinen-Palast. Dazu die gesamten Trosse, morgen kommen die Werkstätten von zwei Panzerkorps hinzu. Ich empfehle Ihnen, sich im benachbarten Alexander-Palais einzurichten. Es ist noch verhältnismäßig schwach belegt. «General von Kortte hob wie bedauernd die Schultern.»Gruppenführer, es tut mir leid. Der jetzige Hausherr des Schlosses, Generaloberst Busch, Befehlshaber der 16. Armee, hat diese Anordnung getroffen.«