Wachter atmete tief durch, riß die Tür auf und stürmte in das Zimmer. Zwei Landser waren gerade dabei, ein Stück der Holzverschalung loszureißen, um zu sehen, was sich dahinter versteckte. Die Mehrzahl aber ag herum, schlief auf den im Zimmer abgestellten oder herangeschleppten kostbaren Sesseln, Liegen und Kanapees. Sie wetzten mit ihren schmutzigen, erdverkru steten Stiefeln über die Brokat- und Seidenbezüge, rauchten und warfen die Kippen in den Sand, der den unersetzbaren Parkettboden bedeckte. Zwei andere Landser, die gerade eine Pappverkleidung heruntergerissen hatten, standen einen Augenblick wie erstarrt vor dem Glanz, den sie freigelegt hatten.
In einem Rahmen aus leuchtendem Bernstein, Intarsien von Sonnengelb bis zum warmen Braun, Mosaike, aus denen man Blütenranken und Medaillons geschnitzt hatte, hing das Gemälde einer idealisierten Landschaft, mit römischen Säulen und bogenförmigen Ruinen, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, wie sie in der Toskana zu finden war. Eine gemalte Ode des Vergil.
«Det is'n Ding!«sagte einer der Landser begeistert.»Da bring ick meener Erna 'ne Handvoll mit. Allet Bernstein, meine Fresse!«
Er zückte sein Seitengewehr, stieß die Spitze in das Mosaik, bohrte und brach ein großes Stück aus der Wand.
Mit drei langen Sätzen stürzte sich Wachter auf den Soldaten, gerade, als dieser grinsend sagte:»Erna war schon imma scharf auf Bernstein. Kameraden, det is hier ja wie'n Goldbergwerk.«
«Zurück!«brüllte Wachter. Er entriß dem Landser das Seitengewehr, schleuderte es weg, packte ihn an den Schultern und stieß ihn von der Bernsteintafel weg.
«Na, na, wat is denn?«sagte der Landser verblüfft. Dann erst begriff er, daß man ihn angegriffen hatte, daß sein Seitengewehr mitten im Saal im Sand lag und daß es auch noch ein
Zivilist war, der ihm einen Stoß versetzt hatte, ein älterer Mann in einem abgeschabten Anzug.»Hast wohl 'ne Meise, Opa?!«schrie er und ballte die Fäuste wie ein Boxer.»Nu halt man dein Kinn fest…«
Aber er kam nicht dazu, seinen Schlag anzubringen. Der zweite Landser, der hinter Wachter stand, hieb mit dem Knauf seines Seitengewehres, weit ausholend, dem anscheinend Verrückten auf den Kopf, zweimal hintereinander, während die anderen Soldaten aus ihren Sesseln und Kanapees hochzuckten.
Michael Wachter spürte den zweiten Schlag schon nicht mehr. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn bis hinunter zu den Zehen. Jetzt bin ich tot, konnte er noch denken, dann fiel er in eine bodenlose Schwärze, in der es kein Denken mehr gab.
In ihrer Erdhöhle wartete Jana Petrowna auf das Erscheinen der deutschen Truppen. In einem dichten Gebüsch hatte sie das Fahrrad versteckt, das ihr der Adjutant von General S-nowjew gegeben hatte, ein ziemlich verwirrter Major, der nicht verstehen konnte, warum man eine Spionin nicht sofort e-schoß, sondern ihr sogar ein Fahrrad gab, damit sie fliehen konnte. Aber frage einer mal einen General nach dem Sinn seiner Befehle… Genossen, wer wagt das schon?
Außerdem waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, das Hauptquartier der Division in dem kleinen, verträumten Jagdschlößchen zu räumen. Die deutsche Artillerie schoß in die zurückgehenden Rotarmisten hinein, Panzervorstöße schlugen große Lücken in die Verteidigungsstellungen, selbst Gegenangriffe der gefürchteten sowjetischen Panzer T 34 brachen im Feuer der neuen deutschen Panzerabwehrgeschütze, kurz PAK genannt, zusammen. Die Stukas und schweren Heinkel-Bomber luden ihre tödliche Fracht über den Dörfern und kleinen Städten ab, überall loderten Brände, und der Himmel war dunkel vom Rauch der Zerstörung. General Sinowjew hatte von seinem Kunstrettungstrupp nichts mehr gehört. Die Verbindung zu Unterleutnant Wechajew war abgerissen. Er wartete auch gar nicht mehr auf eine Nachricht, die Meldungen von der Front sagten ihm, daß die kleine Kolonne direkt in die Arme der vorpreschenden deutschen Panzer gefahren sein mußte. Die auf der Karte abgesteckten feindlichen Positionen zeigten ihm, daß Wechajew keine Chance mehr gehabt hatte, den Deutschen auszuweichen oder zu fliehen. Aus Leningrad war außerdem der Befehl gekommen, sich auf den äußeren Verteidigungsgürtel zurückzuziehen. Dort gruben noch immer Tausende von Frauen, Pionieren und alten Männern die Schützengräben, gossen mit Beton neue Panzersperren, verstärkten die Bunker, stützten die Unterstände ab, und sogar halbwüchsige Kinder schleppten Säcke und Steine, Balken und Bretter, um einen Wall gegen die Aggressoren zu bauen.
Stalins» Kronprinz «Andrej A. Schdanow, Mitglied des Politbüros, war nach Leningrad gekommen und hatte als neuer Leiter der Leningrader Parteiorganisation das Oberkommando der Verteidigung übernommen. In einem Aufruf verkündete er:»Entweder wird die Arbeiterklasse Leningrads versklavt und ihre schönste Blüte vernichtet werden, oder wir graben dem Faschismus vor Leningrad das Grab.«
Die gesamte Bevölkerung sollte deshalb bewaffnet werden. Sie sollten im Handgranatenwerfen und Straßenkampf ausgebildet werden, Straße um Straße, Haus um Haus sollten sich in eine Festung verwandeln, an der sich der Feind verbluten würde. Wenn die Deutschen Leningrad schon eroberten, dann nur unter Strömen von Blut. Auch Marschall Schukow erließ am 17. September an alle Kommandeure der zur Verteidigung von Leningrad eingesetzten sowjetischen Armeen den Befehl, keinen Meter mehr den Faschisten zu überlassen.»Jegliche Absetzbewegung betrachte ich ab sofort als Verbrechen gegen das sowjetische Vaterland«, ließ er verkünden.»Diese Ehrlosen werden zum Tode verurteilt.«
Überall, vor allem im Süden der Stadt, wo von den Deutschen die größte Gefahr drohte, nachdem sie Puschkin erobert hatten, entstanden Stacheldrahthindernisse und kleine Betonbunker, die man» Woroschilow-Hotels «nannte. Deutsche Flugzeuge warfen über der Stadt gefälschte Lebensmittelkar-ten und Rubelscheine ab und Flugblätter, auf denen stand, daß man alle schonen würde, die ihre Kommandanten töteten und sich ergaben. Polizeistreifen durchkämmten die Straßen, wer mit solch einem Flugblatt gefaßt wurde, konnte auf der Stelle erschossen werden.
1,5 Millionen Menschen waren bereit, Rußlands schönste Stadt mit ihren Leibern vor den Deutschen zuzumauern.
Jana Petrowna hörte am frühen Morgen des 17. September das Rasseln der Panzerketten. Die Angriffsspitzen der PanzerGruppe 4 unter Generaloberst Hoepner hatten sie erreicht. Der Ring um Leningrad war geschlossen.
Noch zwei Tage blieb Jana Petrowna in ihrem Erdhöhlenversteck. Dann wagte sie sich ins Freie, wusch sich gründlich in einem kleinen Bach und bürstete den Dreck, so gut es ging, aus ihrer Schwesterntracht. Sie ließ den Militärmantel zusammengeknüllt in der Höhle zurück, zog das Fahrrad aus dem Gebüsch und schob es auf die Straße. Das war der gefährlichste Teil ihres Planes, aber sie hatte Glück. Auf der Straße war kein einziges deutsches Fahrzeug, kein einziger deutscher Soldat zu sehen. So friedlich, wie ein schöner Herbsttag sein kann, stand der Wald unter einer noch wärmenden Sonne.
Sie schwang sich auf den Sattel, setzte ihre Schwesternhaube auf, hängte eine große Tasche aus braunem Wachstuch an die Lenkstange und fuhr den gleichen Weg, den auch Wechajew gefahren war.
Zurück nach Puschkin. Zurück zum Katharinen-Palast. Und während sie kräftig in die Pedale trat, schwirrten viele Gedanken durch ihr Gehirn.
Lebte Väterchen Michail noch? War das Schloß zerstört worden? Hatte man die Schätze geplündert? Wer wohnte jetzt in den Prunkräumen? Würde man ihr die Geschichte, die sie erzählte, glauben und sie im nächsten Lazarett arbeiten lassen? Was war aus Nikolaj, ihrem Liebsten, geworden? Mit dem letzten Lastwagen voller wertvoller Vasen, Schmuckstücke, Möbel und Teppiche, mit Gemälden aus zwei Jahrhunderten und persönlichen Andenken der Zarinnen und Zaren hatte er Zarskoje Selo verlassen und sollte sie in Leningrad in S-cherheit bringen. Hatte er es geschafft? Hatte er Leningrad erreicht, oder war er von deutschen Bomben und Granaten zerfetzt worden? Ob es Väterchen Michail wußte… wenn er noch lebte? Gab es noch das Bernsteinzimmer…?