Nach zwei Stunden einsamer Strampelei kamen ihr die ersten deutschen Truppen entgegen. Ein Infanterie-Bataillon, wie auf dem Marsch zu einem Manöver. Die Kompaniechefs ritten zu Pferde voraus. Der Kommandeur, ein Major, saß zusammen mit seinem Adjutanten und einem Stabsarzt in einem Kübelwagen, erst dann folgten die Autokolonnen mit dem Troß, der Schreibstube, der Feldküche und dem Material. Kein Spähtrupp war ihnen vorausgefahren, so sicher fühlten sie sich.
Ein merkwürdiges, das Herz zusammenschnürendes Gefühl war's, zum ersten Mal deutsche Soldaten zu sehen. Nur für einen Moment zuckte Angst durch Jana Petrownas Körper beim Anblick der langen, grauen Kolonne, doch dann beugte sie sich über das Lenkrad und strampelte unbeirrt weiter. In ihren Adern klopfte das Blut. Würde man sie anhalten? Würde man fragen, woher sie kam?
Ganz rechts fuhr sie auf der Straße, der Kübelwagen des Majors verlangsamte sein Tempo, der Fahrer grinste breit und warf ihr mit gespitzten Lippen ein Küßchen zu. Verwundert lehnte sich der Stabsarzt aus dem offenen Wagen. Der Major tippte ihm auf den Ärmel.
«Doktor, nicht wild werden!«Er lachte kurz und musterte die auf sie zuradelnde Jana.»Lassen Sie das Karbolmäuschen in Ruhe. Wir haben keine Zeit.«
Der Stabsarzt lehnte sich wieder in den Sitz zurück und schüttelte den Kopf.
«Wo kommt sie her, Herr Major?«fragte er verblüfft.»Ja, verdammt, von wo kommt sie? Vor uns ist kein Lazarett, nur ein vorgeschobener Truppenverbandsplatz!«
«Das wird es sein.«
«Auf gar keinen Fall! Unmittelbar hinter der kämpfenden Truppe arbeiten nur Sanitäter und Ärzte. Rote-Kreuz-Schwestern tauchen erst in der Krankensammelstelle auf, und die ist hinter uns. Und sie sitzt auf einem Fahrrad, als fahre sie fröhlich zum nächsten Krankenhaus.«
«Doktor, Sie suchen nur nach einem Grund, mit ihr anzubandeln. Nein, ich lasse nicht halten. «Der Major lachte wieder und winkte Jana zu, als sie an ihr vorbeifuhren.»Verdammt! Wirklich ein hübsches Mäuschen…«
Jana Petrowna winkte zurück, lachte zu ihnen hinüber und trat, so kräftig sie konnte, in die Pedale. Als sie an den Soldaten vorbeikam, empfingen sie schrilles Pfeifen und laute Zurufe.»Schwester, ich habe einen Tripper — «hörte sie aus dem Gejohle heraus.»Schwesterchen, wo hast du die Sanierungsspritze? Mich juckt's, mich juckt's… komm her und sieh mal nach…«Und als sie an der Feldküche vorbeikam, wedelte der Koch, der auf der Protzenbank hockte, mit einem langen hölzernen Kochlöffel und brüllte:»Tausche 'nen Schlag Suppe gegen einmal Hopp-hopp…«
«Haben Sie das gesehen, Herr Major — «sagte der Stabsarzt erregt.»Ihr Kleid ist voller Flecken! So läuft doch eine deutsche Schwester nicht herum! Da stimmt doch was nicht! Wir sollten sie uns näher ansehen…«
«Das könnte Ihnen so passen, Doktor. Leibesvisitation und so. Was ist denn da unterm Röckchen…«Der Major lachte wieder.»Nichts zu machen, mein Lieber — wir alle befinden uns im sexuellen Notstand. Ihr Ärzte habt ja immer mehr Möglichkeiten als wir armen Schweine an der Front.«
Endlich hatte Jana Petrowna das deutsche Bataillon passiert und war wieder allein auf der Straße nach Puschkin. Aus der Ferne hörte sie Gesang, die Landser sangen, um die Müdigkeit zu überwinden. Die Stahlhelme an das Koppel geschnallt, die Uniformkragen aufgeknöpft, verschwitzt und mit Staub überzogen, marschierten sie als Ersatz zum nun geschlossenen Belagerungsring von Leningrad.
Mit noch einem leichten Zittern in den Gliedern stieg Jana ab und dehnte sich, drückte den Rücken durch und holte tief Atem. Beschwerlich war es, auf der unbefestigten Straße zu fahren. Die Straßendecke war von tiefen Furchen durchzogen, die fünf Tage Regen hinterlassen hatten.
In der Nacht schlief sie in einem zur Hälfte ausgebrannten Bauernhaus. Zwischen den verkohlten Balken, eng an die Mauer des ehemaligen Wohnzimmers gedrückt, im Schütze des zersprungenen Ofens aus Lehm und Feldsteinen, lag sie auf zusammengerafftem Stroh, atmete den scharfen Brandgeruch ein und einen süßlichen Geruch, den sie nicht kannte. Erst am Morgen entdeckte sie, daß neben ihr, nur durch die zerborstene Mauer getrennt, drei Tote lagen, zwei Frauen und ein alter Mann, schwarz im Gesicht von dem Feuer, dem sie nicht entkommen waren. Der Verwesungsgeruch drehte ihr den Magen um, sie stützte sich an die rußige Mauer und erbrach sich, hetzte dann zu ihrem Rad und fuhr zurück auf die aufgerissene Straße.
Erst später war sie fähig, etwas zu essen und zu trinken. Sie saß neben der Straße unter einem Baum, die braune Wachstuchtasche im Schoß, und knabberte Sonnenblumenkerne, zerteilte eine dicke Zwiebel und kaute zwei Scheiben ausgetrocknetes Brot und ein Stückchen Dauerwurst. Es schmeckte schon etwas ranzig, aber sie aß die Wurst mit großem Hunger und trank aus einer Bierflasche das Wasser, das sie nach dem Waschen aus dem Bach im Wald geschöpft hatte. Sie schüttete den Rest in die Hand, wusch sich damit das Gesicht, nahm einen Kamm aus der Tasche, ordnete ihr Haar und betrachtete sich in einem kleinen, von braunem Kunstleder umrahmten Spiegel.
Zufrieden war sie mit sich. Das Gesicht mit der Schwesternhaube, die hohen Backenknochen, die klaren Augen, die vollen Lippen… schön war sie, das konnte sie selbst von sich sagen.
Am Abend des zweiten Tages ihrer Radreise erreichte sie endlich Puschkin, die Schlösser von Zarskoje Selo.
Die Deutschen, denen sie jetzt überall in Massen begegnete, beachteten sie kaum bis auf die typischen Bemerkungen, Zurufe oder Zeichen, wenn Männer ein so hübsches Mädchen in der Tracht einer Rote-Kreuz-Schwester sahen. Ihre Gegenwart nahm niemand mit Erstaunen oder Mißtrauen wahr. Gerade vor einem Tag war ein Feldlazarett nach Puschkin verlegt worden und hatte sich hier in einer der Schulen eingerichtet. Neun Ärzte und vierzehn Sanitäter versorgten die Verwundeten und Kranken, die mit Sanitätskraftwagen, kurz Sanka genannt, von der Front herangeschafft wurden. In den Hauptverbandsplätzen nur notdürftig versorgt, lagen sie jetzt hier mit durchgebluteten Verbänden, um den Hals den» Sanitätslaufzettel «gehängt, auf dem gedruckt war:
Begleitzettel für Verwundete und andere chirurgisch zu Behandelnde.
Nichttransportfähig: zwei rote Streifen.
Transportfähig: ein roter Streifen.
Marschfähig: kein roter Streifen.
Darunter standen Name, Dienstgrad, Truppenteil und Art der Verletzung.
Für viele war das ein Dokument des Sterbens, ein Transportschein in die Ewigkeit.
Und auf allen Zetteln stand groß, unübersehbar, mit einem Stempel aufgedruckt: Entlaust.
Mit dem Feldlazarett waren auch drei Schwestern nach Puschkin gekommen. Warum sollte eine von ihnen nicht mit einem Fahrrad zum Katharinen-Palast fahren? Bei den vielen Kommandanturen und Stäben, die das Schloß besetzt hatten, war immer etwas zu tun. Das war mehr Glück, als sich Jana Petrowna erhofft hatte. Unbehindert fuhr sie über die altvertrauten Wege, durchquerte den Park und die zauberhaften Gärten und stellte dann das Rad an die Hausmauer. Aus einem offenstehenden Fenster hörte sie das Klappern von Schreibmaschinen, ein Gewirr von Stimmen und roch den Qualm vieler Zigaretten.
Ohne Hast, völlig unauffällig, ging sie zu Fuß weiter, betrat durch den Nebeneingang des Schlosses den Flügel, in dem früher die Angestellten wohnten und auch Michael Wachter seine Zimmer hatte. Offiziere, die ihr begegneten, grinsten sie an, einige musterten sie mit unverschämten Blicken, ein Hauptmann hielt sie auf und faßte sie am Arm.
«Wohin, meine Süße?«fragte er.»Sicherlich suchen Sie mich.«
«Bestimmt nicht. Ich suche den General.«
Sie sagte einfach General, das genügte. Ein General war sicherlich im Palast, sein Name war unwichtig. Niemand würde es wagen, sie dann noch festzuhalten. Auch der forsche Hauptmann ließ sofort Janas Arm los und hob die Schultern.»Zum General… dagegen komme ich natürlich nicht an«, sagte er anzüglich.»Zimmer 17, aber nicht hier. Dort, im Hauptgebäude. Wünsche ein gutes Hüpferchen.«