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An diesem 22. September 1941 stand es fest, daß Leningrad nicht erobert werden sollte, sondern der Sturm auf Moskau vordringlicher war. Der Ring war geschlossen, die Blockade konnte beginnen, das Aushungern von 1,5 Millionen Menschen. Was an dieser Front entbehrlich war, wurde herausgezogen und in die Schlacht um Moskau geworfen, zuerst die 4. Panzergruppe von General Hoepner. Es war eine Entscheidung, die weder Stalin noch Schukow glaubten, nichts als ein Täuschungsmanöver, sagten sie, aber dann tauchte die 4. Panzergruppe im Norden Moskaus auf und bestätigte die Wahrheit: Leningrad wurde nicht mit Waffengewalt erobert… es sollte verhungern.

Martin Bormann ordnete ein paar Schreiben in einen Schnellhefter, kniff ihn unter den Arm und betrat kurz vor Hitler den Eßraum des Führers. Die Lagebesprechung war beendet, die Meldungen von den Fronten hatten Hitler erfreut, zwar war der Vormarsch der deutschen Armeen äußerst zäh und der W-derstand der Sowjets wuchs von Tag zu Tag, aber das große Ziel rückte immer näher: der Einmarsch deutscher Truppen in Moskau. Was Napoleon mißlungen war, würde der Führer in Kürze dem deutschen Volk und der Welt melden können: Zum ersten Mal in der Geschichte betrete ein europäisches Heer die Hauptstadt Rußlands.

An diesem Tag war Hitler mit sich, seiner Welt und seinen Generälen zufrieden. Man konnte sich schöneren Dingen zuwenden, zum Beispiel den Künsten.

Wie kaum ein anderer aus seiner Umgebung kannte Bormann den Führer, seine Stimmungen und seine Schwächen. Er ahnte fast immer richtig voraus, was Hitlers Geist außerhalb den militärischen Situationen beschäftigte. Oft lenkte er vorsichtig die Gespräche auf dieses oder jenes Thema, das er gerade für wichtig hielt.

Die Mittagstafel verlief wie immer. Hitler aß wenig, trank zum Nachtisch eine Tasse Tee, unterhielt sich kurz mit seinem Leibarzt Dr. Morell und wandte sich dann Bormann zu. Ein langer Monolog war gerade beendet. Zur Freude Bormanns hatte Hitler über seine Pläne gesprochen, nach dem Endsieg in Linz an der Donau, der Stadt, die er besonders liebte, ein gigantisches Museum zu bauen, über dessen Gestaltung sein Architekt Albert Speer schon nachdachte. Es sollte ein gigantischer Bau werden, der alles bisher Gesehene übertreffen und gegen den das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg wie eine Zwergenheimstatt wirken würde. Die wertvollsten Kunstschätze der Welt sollten in diesem Museum versammelt sein, eine riesige Walhalla der Kunst, gefüllt mit Plastiken und Gemälden, Teppichen und Gobelins, Goldschmiedearbeiten und Porzellanen, Möbeln und Büchern, Ikonen und Holzschnitzereien. Die unschätzbarsten Kulturgüter aus ganz Europa würden für alle Zeiten der Menschheit erhalten bleiben, deutscher Besitz für die kommenden tausend Jahre. Ein Erbe für Hunderte Generationen… denn Europa gehörte dem Deutschen Reich, daran zweifelte Hitler nicht einen Augenblick. Vor allem die unsagbaren Schätze im Osten, in den Schlössern, Klöstern und Kirchen, in den Zarenpalästen und den Palais der Fürsten und des russischen Hochadels sollten die Glanzstücke dieses Museums werden.

Schon gleich zu Beginn des Krieges wurde eine Verfügung herausgegeben, daß alle Kunstschätze aus den eroberten Gebieten von Experten begutachtet und selektiert werden sollten. Die besten und wertvollsten Stücke wurden danach ausgesondert, um nach dem Sieg nach Linz gebracht zu werden.

«Führervorbehalt «wurde diese Verfügung genannt. Hitlers Hand lag auf allem, was eine zweitausendjährige Kunst hervorgebracht hatte.

An diesem 22. September hatte Hitler vor der Tischrunde seinen großen Traum von Linz ausgebreitet. Aus den besetzten Ostgebieten waren lange Listen mit» sichergestellten «Schätzen eingetroffen, die Hitler in Begeisterung versetzten. Er warf einen kurzen Blick zu Bormann hinüber und lehnte sich weit zurück, die Hände über dem Leib zusammengelegt.

«Sie möchten etwas vortragen?«sagte er und wies dabei auf den roten Schnellhefter, der neben Bormann lag.»Fangen Sie an.«

«Mein Führer — «Bormann öffnete den Schnellhefter und überflog noch einmal schnell die Meldungen, die er darin gesammelt hatte.»Das Einsatzkommando >Hamburg< des Sonderkommandos AA, das sich bei Schließung des Rings um Leningrad im Verband der 18. Armee befand, hat einen Vorbericht geschickt. Ein großer Teil der Kunstschätze von Puschkin, von Gatschina, Pawlowsk und Petrodworez, dem ehemaligen Peterhof, sind gerettet worden, zum größten Teil unversehrt. Darunter befindet sich im Katharinen-Palast in Puschkin auch das wertvollste und schönste Kunstdenkmaclass="underline" das Bernsteinzimmer. Es wäre wert, in Linz einen eigenen Saal zu bekommen. Fotos des Bernsteinzimmers liegen vor. Bitte, mein Führer.«

Bormann reichte Hitler vier großformatige Fotografien. Sie zeigten das Bernsteinzimmer von allen Seiten, die Deckengemälde und den eingelegten Fußboden. Es waren Ajfnahmen vor dem Krieg mit allen Möbeln und Bernsteinschränken und dem auf einem hohen, mit soldatischen Marmorfiguren umringten Sockel stehenden Reiterstandbild Friedrich des Großen. Auch die alten chinesischen Vasen waren zu sehen, die Bernstein-Intarsientischchen und der wunderschöne Bernsteinsekretär.

Lange sah sich Hitler die Fotos an. Dann gab er sie an Bormann zurück, nickte kurz und knapp:»Ich werde das Zimmer in Linz als einen Mittelpunkt aufstellen. Veranlassen Sie das

Notwendige. Es soll mit größter Sorgfalt vorgegangen werden. Wer soll die Leitung übernehmen?«

«Ich denke an Dr. Herbert Wollters oder Dr. Hans-Heinz Run-nefeldt. Sie sind Experten, vor allem für Bernstein.«

«Am besten beide. «Hitler trank einen Schluck Tee und schien sehr zufrieden zu sein. Man sah es an seinen Händen — er rieb sie aneinander.»Sie sollen sofort beginnen. Und die anderen Kunstwerke?«

«Sie werden im Rahmen der Aktion Bernsteinzimmer sichergestellt werden. «Bormann warf wieder einen Blick in seinen Schnellhefter.»In den Schlössern Puschkin und Pawlowsk sind es vor allem noch seltene Bücher aus vier Jahrhunderten… man schätzt über 50 000 Bände. Daneben hat man noch eine sensationelle Ikonensammlung entdeckt. Auch das wäre etwas für Linz, mein Führer.«

Hitler nickte wieder.»Kümmern Sie sich darum«, sagte er.»Ikonen… darin lebt Rußlands Seele.«

Er begann einen langen Monolog über Ikonen, Kirchenschätze und den ungeheuren Einfluß des Christentums auf die Kunst des Mittelalters.

Bormann entschuldigte sich und verließ den Eßraum. Er war einer der wenigen, der die Mittagsrunde vor Hitler verlassen durfte.

Am 26. September bekam der Oberbefehlshaber des Heeres ein Schreiben von der Adjutantur der Wehrmacht beim Führer. Darin hieß es:

«Der Führer hat nach Vortrag von Reichsleiter Bormann entschieden, daß der Leiter des Außenamtes der staatlichen Museen, Dr. Hans-Heinz Runnefeldt, der zur Zeit als Sonderführer die Betreuung der Kunstschätze in Reval ausübt, so eingesetzt wird, daß er auch für weitere Aufgaben auf dem Gebiet, z. B. Sicherstellung der Kunstschätze von Zarskoje Selo, Peterhof und Oranienbaum und späterhin auch Petersburg zur Verfügung steht…«

Das» deutsche Gold der Ostsee«, wie Hitler den Bernstein von jeher genannt hatte, das größte Kleinod, das Bernsteinzimmer in Puschkin, war» Führervorbehalt «geworden. Bestimmt für das gigantischste Museum, das die Welt besitzen sollte, den» ewigen Bau «in Linz an der Donau.

Die beiden Expertenkommissionen, das Sonderkommando AA und der Einsatzstab Rosenberg trafen im Abstand von zwei Tagen im Katharinen-Palast ein. Sie meldeten sich bei General von Kortte und legten ein Schreiben von Generaloberst von Küchler vor, dem Oberbefehlshaber der 18. Armee, die den Einschließungsring um Leningrad errichtete und zu deren Verwaltungsgebiet nun auch Puschkin gehörte. Von Kortte las das Schreiben und machte eine weite Handbewegung.

«Sehen Sie sich um, meine Herren«, sagte er.»Ich kann's nicht ändern.«

Der Leiter des Sonderkommandos AA, das zuerst in Puschkin auftauchte, überhörte höflich den Sarkasmus des Generals.»Dr. Herbert Wollters«, stellte er sich vor.»Ich handele im Auftrag des Herrn Reichsaußenministers von Ribbentrop und einer Sondervollmacht der Parteikanzlei.«