Wachter wartete noch zehn Minuten, als Dr. Wollters gegangen war. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Kunstexperte nicht mehr in der Nähe war, verließ er schnell das Bernsteinzimmer. Er rannte hinüber zum Gesindeflügel, warf in seiner Wohnung die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Schwer atmend lehnte er sich gegen den Rahmen.
Jana Petrowna sah ihn betroffen an. Wachters verzerrtes Gesicht verhieß nichts Gutes. Sie war gerade damit beschäftigt, den Bezug eines Gobelinsessels mit einer milden Seifenlauge von Flecken zu reinigen. Etwas anderes als Seife gab es nicht.»Hör auf damit!«schrie Wachter und ließ sich auf sein Sofa fallen.»Hör auf! Zerschneid lieber alles, zerreiß es…«
«Was… was ist denn passiert, Väterchen?«fragte sie arschrocken.
Wachter atmete ein paarmal tief durch, wurde ruhiger und wischte sich mit beiden Händen über die Augen.»Es ist soweit. Sie werden es ausbauen«, sagte er dann dumpf.»Wollen es nach Linz bringen. In ein Museum. Linz an der Donau, Töchterchen. Weit weg von hier. Hitler will das Bernsteinzimmer unbedingt haben. Ich weiß es jetzt sozusagen amtlich. O Gott, laß das nicht zu, tu ein Wunder…«
«Wann wollen sie das Zimmer ausbauen?«
«Ich weiß es nicht, Janaschka. Bald, hat er gesagt, bald. Und keiner kann das verhindern.«
«Du wirst mit dem Bernsteinzimmer mitgehen, Väterchen.«»Wegjagen werden sie mich! Sie kriegen es sogar fertig, mich zu erschießen. Du hast nicht seine Augen gesehen… diese kalten Augen, dieses steinerne Gesicht.«
«Sie werden dich nicht töten, Väterchen. Nur zurücklassen werden sie dich.«
«Genügt das nicht?«Wachter starrte Jana Petrowna wie ein Sterbender an.»Auch das ist Tod — «
«Ich werde dann an deiner Stelle bei dem Zimmer bleiben, wie wir es ausgemacht haben«, sagte sie und versuchte, ihn durch ein Lächeln zu besänftigen.»Verlaß dich auf mich, Väterchen. Nicht aus den Augen werde ich es lassen.«
«Auch dich werden sie wegjagen, Jana.«
«Nein. Eine Schwesterntracht trage ich, ein Rotes Kreuz… unangreifbar bin ich für einen Deutschen. Im ersten Transportwagen werde ich sitzen und mitfahren, wohin auch immer das Bernsteinzimmer kommt. Und keiner wird lange fragen, warum ich mitfahre.«
Wachter schüttelte den Kopf. Ein Wahnsinn war das, dachte er. Auch wenn sie recht haben sollte, daß die Schwesterntracht sie schützt… es blieb ein Wahnsinn. Er sah Jana Petrowna aus traurigen Augen an und erschrak über ihre Entschlossenheit.
«Viel zu gefährlich, Jana.«
«Ich habe keine Angst.«
Zwei Tage später — Dr. Wollters und sein Sonderkommando AA waren wieder abgezogen mit dem Versprechen, bald wieder zurückzukommen — fuhren die Experten des» Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg«, militärisch abgekürzt ERR, vor dem Katharinen-Palast vor. Ihr Leiter, ein Kunstexperte und Kunsthistoriker im Range eines Majors, meldete sich bei General von Kortte. Der diensthabende Wachoffizier benachrichtigte über Telefon den General, während ein Feldwebel die Herren zum Chinesischen Zimmer führte.
Von Kortte tat es wohl, gleich bei ihrem Eintritt zu sagen:»Meine Herren, den Weg hätten Sie sich sparen können. Das Auswärtige Amt war schneller. Sie kommen zwei Tage zu spät. Alle Kunstschätze sind bereits katalogisiert. Möchten Sie einen Kognak zur Beruhigung?«
Der Major, er stellte sich als Heinrich Müller-Gießen vor, verbarg nicht seine Enttäuschung. Er machte vor von Kortte eine knappe Verbeugung.»Verbindlichsten Dank, Herr General«, sagte er.»Uns war unbekannt, daß die Kameraden vom AA schon hier waren.«
«Aha! Es schwirren also noch mehr Trupps herum, um Kunstwerke sicherzustellen? Man sollte eine Koordination versuchen und nicht Hase und Igel spielen.«
Major Müller-Gießen überhörte den Spott, nahm sich aber vor, solche Bemerkungen in seinem nächsten Bericht an Rosenberg zu erwähnen. Schließlich war Rosenberg der neue Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und sein» Sonderstab Bildende Kunst «als erster damit beauftragt worden, das gigantische Kunstprojekt Linz des Führers mit außergewöhnlichen Kunstschätzen zu füllen. Zudem lag ein Vorschlag Rosenbergs bei Hitler vor, seinem Einsatzstab das alleinige Recht der Sammlung zu übertragen und alle bisher von anderen Organisationen sichergestellten Kunstgegenstände in seine Verwaltung zu geben.
«Wir möchten trotzdem das Schloß besichtigen, Herr General«, sagte Müller-Gießen unbeeindruckt.»Wir haben einen Auftrag von höchster Stelle, den wir erfüllen müssen.«
«Bitte, ich hindere Sie nicht. «General von Kortte machte, wie bei Dr. Wollters, eine allesumfassende Handbewegung.»Registrieren Sie, zählen Sie, bewerten Sie… wie heißt's so schön? Doppelt genäht, hält besser.«
Dieses Mal saß nicht Wachter auf seinem Schemel im Bernsteinzimmer, Jana Petrowna stand im Saal, als Müller-Gießen und die anderen Sachverständigen eintraten. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie die graugrünen Uniformen.
«Ah, ein kunstliebendes Schwesterchen!«sagte MüllerGießen, plötzlich wieder gut gelaunt. Wie für die meisten Soldaten war auch für ihn eine Rote-Kreuz-Schwester zuerst ein Objekt männlichen Interesses.»Nicht wahr, das ganze Palais ist ein Wunderwerk der Kunst. Aber hier, das Bernsteinzimmer, ist einsame Klasse. Nur sehen Sie leider jetzt nicht viel. Die ganze Pracht werden wir Ihnen dann nach dem Sieg in Linz zeigen. Es wird sich lohnen, nach Linz zu kommen.«»Bestimmt werde ich nach Linz kommen, bestimmt… wenn das Bernsteinzimmer dort sein wird. «Janas Lächeln bezauberte Müller-Gießen in Sekundenschnelle. Er war Professor für Kunstgeschichte, schon Anfang Fünfzig, und zu Hause in Würzburg wartete eine etwas dickliche Frau auf ihn und eine Tochter, die Lehrerin war.
Mit fünfzig Jahren kann einen das Lächeln einer hübschen Krankenschwester bis ins Herz treffen. Müller-Gießen versuchte einen uralten Trick. Er sagte charmant:
«Die Kunst nimmt Sie gefangen, Schwesterchen? Darf ich den Gefangenenwärter spielen? Ich erkläre Ihnen gern die Schätze des Katharinen-Palastes. Staunen werden Sie, wo Sie hier sind. Wie war's mit heute abend?«
«Da habe ich Dienst. «Janas Lächeln verstärkte sich. Instinktiv spürte sie, daß dieser Mann in der Offiziersuniform ein wichtiger Mann war.
«Dann morgen?«
«Wie lange bleiben Sie in Puschkin?«
«In Puschkin? Bestimmt fünf Tage. Wir haben auch noch die anderen Paläste zu besuchen und aufzulisten. «Müller-Gießen spürte ein Jucken unter den Haarwurzeln und genoß dieses Gefühl. Es war wie damals am 29. August 1940, als er in Frankreich die Kathedrale von Chartres besichtigte und dabei Lucienne Dambrous kennenlernte. Sie war ein süßes, neunzehnjähriges Mädchen gewesen mit schulterlangen blonden Haaren und hatte ihn seelisch völlig außer Kontrolle geraten lassen, als sie die Nächte bei ihm blieb. Er überschüttete sie mit Schokolade, Wein, Kognak und kleinen Kunstwerken, die er in Kirchen und Museen» sicherstellte«. Jetzt stand ihm eine schwarzhaarige Schönheit gegenüber, blinzelte ihn an, und unter seiner Kopfhaut juckte es.»Also dann morgen abend«, sagte Müller-Gießen forsch.»Schwesterchen, ich zeige Ihnen alles, was Sie wollen.«
Die anderen Herren in seiner Begleitung, ausnahmslos Kunstwissenschaftler, grinsten breit. Ja, der Major, das war ein Draufgänger… im wahrsten Sinne des Wortes.
Michael Wachter saß in seinem Wohnzimmer auf dem Biedermeier-Sofa, seinem Lieblingsmöbel, das er aus dem Gartensaal zu sich genommen hatte, nicht weil es besonders wertvoll war — da gab es im Schloß hundertmal kostbarere Möbel, sondern weil es sich bequem darauf ausruhen ließ. Man konnte sich langstrecken, hatte immer einen warmen Rücken durch die hohe Lehne und ein festes Polster unter sich. Er hatte einen alten Katalog vor sich und blätterte darin herum. In ihm waren alle Kunstgegenstände aufgeführt, die im Katharinen-Palast einmal zu besichtigen gewesen waren, als ganz Zarskoje Selo noch ein riesiges, in der Welt einmaliges Museum gewesen war. Selbst jetzt, nachdem sich die russischen Sondereinheiten zurückgezogen hatten, war noch genug vorhanden, um das Herz jedes Kunstsachverständigen höher schlagen zu lassen.