Am nächsten Morgen ließ sich Wachter bei General von Haldenberge melden. Zur Verblüffung des Adjutanten empfing ihn der Kommandeur ohne lange Wartezeit. Haldenberge war bekannt dafür, jede unnütze Störung als eine persönliche Beleidigung anzusehen.
«Sie wurden mir schon empfohlen, Herr Wachter«, sagte er. Aber er gab ihm nicht die Hand, wie es von Kortte getan hatte. Ein Händedruck war für ihn schon eine Art von Vertraulichkeit.»Ich habe eine halbe Stunde Zeit. Sie können mir das sagenhafte Bernsteinzimmer zeigen.«
Jana Petrowna, die im Zimmer stand, um General von Haldenberge kennenzulernen, wurde von ihm überhaupt nicht beachtet. Eine Krankenschwester, die in ihrer Freizeit Kunstschätze ansieht… was soll's?!
«Phänomenal!«sagte von Haldenberge, als Wachter ihm unter einer losen Verkleidung eine der Wandtafeln und Figuren zeigte.»So etwas habe ich noch nie gesehen. Kein Wunder, daß der Führer so etwas für das Reich retten will. Das gibt's nicht wieder.«
«Der Führer?«fragte Wachter dumpf.
«Ja. Hat Ihnen von Kortte nicht gesagt, was da läuft?«General von Haldenberge starrte an die Decke mit den herrlichen Deckengemälden.»Wir haben einen Führerbefehl bekommen… über Generalfeldmarschall Ritter von Leeb und Generaloberst von Küchler ist er auch zu mir gekommen als neuer Herr über Puschkin. «Er sagte tatsächlich» Herr über Puschkin«. Wachter zog wie frierend die Schultern hoch.»In zwei, drei Tagen wird das Einsatzkommando >Hamburg< des Sonderkommandos AA hier im Schloß sein.«
«Rittmeister Dr. Wollters?«
«Sie kennen ihn bereits? Ja, er ist dabei. Geführt wird das Kommando von einem Sonderführer Dr. Runnefeldt, wenn ich den Namen richtig verstanden habe. Dieser Runnefeldt, oder wie er heißt, soll umfassende Vollmachten vom Führer haben. Das steht auch in der Anweisung vom Führerhauptquartier.
Das Kommando soll, wie Generaloberst von Küchler mir sagen läßt, das Bernsteinzimmer ausbauen. «Von Haldenberge sah auf den Fußboden. Das Intarsienparkett aus rosa und schwarzem Palmenholz mit Palisander, vermischt mit leuchtendgelben Bernsteinstücken, entlockte dem General einen bewundernden Ausruf.»Unfaßbar! Ist das ein Parkett! Das waren noch Künstler, Herr Wachter, und sie hatten Zeit für ihre Kunst. Da wurde nichts gehudelt. «Er verließ das Bernsteinzimmer, ohne auch nur einen Blick auf Jana Petrowna zu werfen, und blickte Wachter wieder nachdenklich an. Von Kortte schien ihn gut unterrichtet zu haben, oknn er zog jetzt ein Stück Papier aus der Uniformtasche, faltete es auseinander, indem er es in der Luft schüttelte, und klemmte ein Monokel in sein linkes Auge.
«Um Ihnen zu zeigen, wie ernst es in den nächsten Tagen wird, lese ich Ihnen das hier vor. Es ist eine Eintragung ins Kriegstagebuch der 18. Armee, zu der mein Korps gehört: >28. September 1941, 16 Uhr. Rittmeister Dr. Wollters, vom OKW mit der Erfassung der Kunstgegenstände in den Zarenschlössern beauftragt, bittet um Schutz für das Zarenschloß Puschkin, das durch Bombentreffer leicht zerstört und zur Zeit in vorderster Linie durch unachtsames Verhalten der Truppe gefährdet ist. Mit der Sicherung wird L. A. K. beauftragt. A. Nachsch. F. stellt Arbeitskräfte und Kfz zur Bergung der bes. wertvollen Kunstschätze unter Leitung von Rittmeister Dr. Wollters zur Verfügung<. «Von Haldenberge ließ das Blatt sinken.»Das ist doch klar, nicht wahr? Noch heute wird das Schloß von den Truppen geräumt, nur die Stäbe bleiben hier, ich werde aus der Nachschubeinheit zwanzig oder mehr Mann zur Verfügung stellen, so viel man braucht, nur Kfz habe ich nicht übrig, da muß noch was organisiert werden. «Von Haldenberge steckte das Papier wieder in seine Rocktasche. Er sah Wachters entsetzte Augen, bedauerte ihn, aber helfen konnte er ihm nicht mehr. Das OKW hatte befohlen, und hinter diesem Befehl standen die Wünsche von Bormann und Hitler. Man konnte nur noch gehorchen.
«Und damit die Sache ganz im Sinne des Führers verläuft«, fügte er hinzu,»wird die ganze Aktion vom Sonderbeauftragten Dr. Runnefeldt selbst überwacht werden. Das ist Bormanns Vorschlag gewesen.«
«Sie… sie wollen also das Bernsteinzimmer stehlen…«sagte Wachter leise. General von Haldenberge hob die Augenbrauen und sah Wachter fast entsetzt an.
«Mann, was reden Sie da?«zischte er.»Das will ich nicht gehört haben! Das Bernsteinzimmer kommt heim ins Reich… es gehörte Friedrich Wilhelm I. Deutsche Bernsteinkünstler haben es geschaffen! So muß man das sehen. Und so sieht es auch der Führer.«
Wachter nickte und schwieg. Er dachte an das Schicksal der Familie Wachter in den vergangenen 225 Jahren und den niedergeschriebenen Bericht seines Vorfahren Friedrich Theodor Wachter:»Der König hat sein Bernsteinzimmer dem Zaren Peter I. geschenkt! Er muß besoffen gewesen sein. Einziger Trost: Wir werden das Zimmer nach Petersburg begleiten. Das hat uns der König versprochen. Wie wird unser Leben fernerhin aussehen?«
Ja, wie wird unser Leben aussehen? Was wird aus uns ohne das Bernsteinzimmer?
«Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. «Von Haldenberge klopfte Wachter auf die Schulter. Es war gut gemeint, aber verringerte in keiner Weise Wachters Schmerz.»Hier hätte Ihnen auch General von Kortte nicht mehr helfen können. Außerdem, wer weiß, was noch auf uns zukommt. Das Bernsteinzimmer ist jedenfalls gerettet. Das muß doch für Sie ein großer Trost sein.«
Wachter nickte wieder stumm. Er wartete, bis von Haldenberge gegangen war, und kam dann ins Bernsteinzimmer zurück. Entsetzt starrte ihn Jana Petrowna an, stürzte dann, alle Vorsicht vergessend, auf ihn zu und umarmte ihn.
Er weinte. Väterchen weinte! Unter Zuckungen liefen Tränen über sein Gesicht.
«Sie… sie kommen…«sagte sie und umarmte Wachter.
«Ja — «
Da weinte auch sie. Die Stirnen gegeneinander gepreßt, hiel-ten sie sich wie Ertrinkende umklammert und hatten keinen Trost mehr füreinander.
«O nein, nicht schon wieder! Mein Kopf fühlt sich noch jetzt an wie in einem Schraubstock.«
Dr. Findling hatte von einer Ordonnanz wieder einen Zettel von Gauleiter Koch überreicht bekommen. Eine Einladung für den Abend. Mörderische Alkoholstunden standen bevor.
«Ich sage ab. Ich bin krank. Meine Herbstgrippe. Du mußt mich entschuldigen, Martha.«
«Ich? Allein zu Koch? Nicht mit zehn Pferden!«Martha Findling wedelte mit beiden Händen durch die Luft.»Koch ist dein Freund. Das mußt du allein mit ihm ausmachen, Wilhelm.«
«Er ist nicht mein Freund, wie oft soll ich das noch sagen!«»Aber er tut so.«
«Wenn ich Koch brüskiere, bin ich innerhalb von 24 Stunden entlassen und werde an die Front versetzt. Frontbewährung nennen sie das! Koch ist pathologisch stolz und nachtragend. Nur Krankheit wird er akzeptieren. Martha — «
«Nein! Nein! Nein! Ich habe genug vom letzten Mal. Da hat er mich an die Brust gefaßt…«
«Davon weiß ich ja gar nichts. Davon hast du mir nie etwas erzählt! Dieser Hurenbock!«
«Was hättest du getan, wenn ich's dir erzählt hätte? Nichts! Koch ist immer der Stärkere.«
Martha Findlings Charakterisierung war nicht übertrieben… Koch war der Stärkere. Als Dr. Findling mit zerknirschter Miene bei ihm erschien, natürlich war Kochs Intimus Bruno Wellenschlag auch zu Gast, und sich entschuldigte, er habe seine alljährliche Herbstgrippe, rief Koch frohgelaunt:
«Dann trinken Sie erst mal einen Dreifachen, Doktor! So mach ich's immer. Ich gurgele die Bazillen mit Kognak weg! Und dann, wenn ich Ihnen sage, warum ich Sie gerufen habe, werden Sie wie ein Neger herumtanzen. Zuerst der Dreifache…«Dr. Findling trank mit wahrer Tapferkeit den großen Kognakschwenker leer. Koch und Wellenschlag, die keine Herbstgrippe plagte, leisteten ihm Gesellschaft. Und dann schoß Koch mit dem Gesicht eines siegreichen Gladiators seine erste Triumphrakete ab.
«Der Kontakt mit Generaloberst von Küchler und der 18. Armee ist perfekt. Mit Kußhand wurde die >Transportstaffel Koch< angenommen und läuft wie am Schnürchen. Sie bringt Munition und Nachschub an die Front, entlastet die armeeeigenen Wagen, die nun schnelle Truppenbewegungen übernehmen, und stehen auf dem Rückweg, um nicht leer zu fahren, für die Gauleitung zur Verfügung.«