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Viktor Janissowitsch war das ganz klar, aber nicht klar war ihm, warum man in einem einsamen Wald, dazu noch im verfilzten Dickicht, den Boden aufriß.

Mit einemmal verspürte er keinen Drang mehr, sich die Hose abzustreifen. Ein Gefühl von Gefahr stieg in ihm auf. Er überlegte, ob er zurückrennen und Unterleutnant Wechajew alarmieren sollte, aber wenn es sich dann heraus stellte, daß nichts Ungewöhnliches zu entdecken war, würde man ihn nicht nur mit Spott übergießen, sondern Wechajew würde auch noch seine ganze Wut wegen der gebrochenen Achse an ihm auslassen. Also schweig, mein Lieber, dachte Solot-win, sieh erst einmal selbst nach, ein Feigling bist du nicht, Krieg ist ja, aber die Deutschen sind noch viele Werst von hier entfernt… was also kann es sein?

Nein, ein Feigling war Viktor Janissowitsch nicht, nur hatte er bisher noch keine Gelegenheit gehabt, seinen Mut zu zeigen. Nicht einen deutschen Soldaten hatte er bislang erschossen, selbst gesehen hatte er noch keinen. Immer waren es nur Holzattrappen gewesen, sogenannte» Pappkameraden«, die unter seinen gutgezielten Schüssen umfielen und ihm Belobigungen seiner Offiziere eingebracht hatten. Doch, seien wir ehrlich mit ihm, ein wenig Zittern in den Knochen und ein drehendes Gefühl im Magen hatte er schon, wenn er daran dachte, einen richtigen Menschen durch ein bloßes Fingerkrümmen aus dieser Welt schaffen zu müssen. Nur davor hatte er e-gentlich Angst, und deshalb wünschte er sich insgeheim — es auszusprechen war ja Feigheit und Verrat am Volk —, daß es bei seiner jetzigen Reinheit blieb. Sie kamen ja nur indirekt mit dem Feind in Berührung, denn ihre Aufgabe führte sie immer dorthin, wo noch Ruhe war, von den Luftangriffen der Faschisten einmal abgesehen. Er gehörte zu einer Sondereinheit, die überall dort auftauchte, wo man mit einer Eroberung durch die Deutschen rechnete, und die aus Klöstern, Schlössern und Museen so viele Kunstschätze bergen sollte, wie es in der kurzen Zeit möglich war. Drei Offiziere, Kunstexperten, fuhren immer einen Tag voraus, um die wertvollsten Stücke auszusuchen und zu kennzeichnen.

Nun war das Ziel das Städtchen Puschkin, das eigentlich nur aus dem Alexander-Palast und dem Katharinen-Palast, weiten Parkanlagen und Zierteichen mit Wasserspielen und Grotten bestand. Die Wohnhäuser um diese Paläste waren uninteressant, und man hätte sie von den Deutschen überrennen lassen können, wie diese Hunderte andere kleine Städte zuvor überrannt hatten.

Wenn da nicht der Katharinen-Palast gewesen wäre. Dieser herrliche Palast mit seinen Säulen und Marmorstatuen, den vergoldeten Zwiebelkuppeln seiner Schloßkirche, den vergoldeten Balkongittern aus Schmiedeeisen, den von Bildhauern reich verzierten Fenstersimsen und den kunstvollen französischen Gärten nach dem Vorbild des Parks von Versailles. Der Wert all dieser Kunstwerke, die sich hier angesammelt hatten, war mit Zahlen kaum noch zu benennen. Und ein Kunstwerk war darunter, das einzigartig auf der Welt war, das nie wieder hergestellt werden konnte: ein Saal in den Maßen von 11,50 Meter mal 10,55 Meter und einer Deckenhöhe von sechs Metern mit 22 wunderschönen Vertäfelungen, 150 Platten, Girlanden, Figuren und Wappen, und das alles aus einem» Stein «in den Farben vom hellsten Gold bis zum funkelnden Dunkelbraun: das Bernsteinzimmer. Über zweihundert Jahre wurde dieser Saal im Katharinen-Palast, geliebt von allen Zarinnen und Zaren, immer wieder ergänzt und ausgeschmückt mit neuen Bernsteinwerken, Gemälden und Deckenmalereien, Putten und auch vielfarbigen Jaspis-Mosaiken in Bernsteinrahmen, die ein Werk des Hofarchitekten Rastrelli, des Lieblingsbaumeisters der Zarin Elisabeth, waren.

Das Bernsteinzimmer.

Ein ganzer Saal aus dem» Sonnenstein«.

Wer ihn einmal gesehen hat, wird es nie mehr vergessen. Die Schönheit hatte sich in ihn eingebrannt, in Tausenden von Mosaiken und glitzernden Steinschnitzereien brach sich das Licht.

Die drei Kunstoffiziere der Roten Armee waren vor zwei Tagen in Puschkin eingetroffen. In ständigem Telefonkontakt mit General Sinowjew, berichteten sie ihm, daß deutsche Bomber die

Vorstädte von Leningrad und auch Puschkin bombardierten, aber das wußte Sinowjew längst.

«Ich will nicht wissen, was an der Front passiert«, bellte er ins Telefon und unterstrich seine Erregung mit Faustschlägen auf den Tisch, die man in Puschkin deutlich hörte.»Könnt ihr das Bernsteinzimmer retten? Das allein sollt ihr mir melden. Schaffen wir es?«

«Kaum«, sagte der älteste der Offiziere, ein Major, der als Kunsthistoriker am Russkij Muzei, dem Russischen Nationalmuseum, arbeitete und dem vor allem die Säle XXII., I., XXI. und III. unterstanden, wo die schönsten und wertvollsten Gemälde, Skulpturen und Möbel dieses Museums ausgestellt waren.»Wir können gerade noch die Wände verschalen und vor Beschädigungen schützen. Damit hatte man bereits begonnen, als wir eintrafen.«

«Was hindert Sie, das Zimmer auszubauen?«rief Sinowjew in höchster Erregung.

«Die Zeit, Genosse General.«

«Noch sind die Deutschen nicht in Puschkin!«

«Aber sie werden in spätestens drei bis vier Tagen hier sein. In drei Tagen ist der Ausbau nicht zu schaffen.«

«Wir haben Menschen genug!«schrie Sinowjew unbeherrscht. Das Bernsteinzimmer in deutscher Hand — dieser Gedanke preßte ihm das Herz zusammen.»Holen Sie an Arbeitern heran, was Sie kriegen können.«

«Alle noch arbeitsfähigen Männer und Frauen sind zu Schanzarbeiten befohlen. Drei Verteidigungsgürtel sollen entstehen.«

«Das weiß ich doch!«General Sinowjew fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Das letzte Gespräch mit General Schukow war noch frisch in seiner Erinnerung.»Holen Sie einfach Frauen von der Straße und lassen Sie sie zum Bernsteinzimmer bringen! Es muß gerettet werden! Verstehen Sie mich: Es muß — «

«Außerdem brauche ich achtzehn bis zwanzig Lastwagen…«Sinowjew holte tief Atem. Zwanzig Lastwagen.»Versagt Ihr Gehirn?«sagte er, etwas leiser geworden.»Sie wissen

doch…«

«Um das Zimmer abzutransportieren, brauche ich zwanzig Wagen, Genosse General. Die Wahrheit ist's nun mal. Sollten wir die Mosaike einzeln in Säckchen wegbringen, die Girlanden zersägen, die Köpfe herausschlagen, die Gemälde aus den Rahmen schneiden, die Deckenmalereien zerstückeln? Die Vertäfelungen müssen als Ganzes herausgenommen werden, die Türen, die Putten, die Girlanden, die Masken… sonst können wir das Bernsteinzimmer gleich in die Luft sprengen.«

«Ich werde sehen, was mir möglich ist«, sagte General Sinowjew noch leiser. Seine Stimme war schleppend geworden, schwer die Zunge vor Hilflosigkeit und Kummer. Er stützte den Kopf in die rechte Hand, während die linke den Telefonhörer hielt. Seine Gardedivision grub sich in die Erde, tränkte Meter um Meter der heiligen russischen Erde mit Blut, aber der Druck der deutschen Truppen war zu stark. Allein im Räume Puschkin und Peterhof stießen das XXVIII. Armeekorps, das XLI. Panzer-Korps, die 96. und 121. Infanterie-Division, das L. Armeekorps, Teile der 16. und 18. Armee der Heeresgruppe Nord unter dem Befehl von Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, die 1. Panzerdivision und vor allem die SS-Polizei-Division, gefürchtet überall, wo sie eingesetzt wurde, unaufhaltsam vor. Fünfzehn Divisionen der Roten Armee standen neunundzwanzig Divisionen der Deutschen gegenüber. Zum ersten Mal erlebten sie die Übermacht der Faschisten. Leningrad — für Hitler ein Symbol des Sieges.

Und im Mittelabschnitt der Front rollte die deutsche Lawine bereits auf Moskau zu.

General Sinowjew schloß einen Moment die Augen.

Es darf nicht sein, schrie es in ihm. Nein, es darf einfach nicht sein! Über 500 000 Kinder leben noch in der Stadt, für 980 000 Menschen hatte man Luftschutzräume gebaut, 672 000 Menschen konnten sich in schnell ausgehobenen Splittergräben verkriechen, aber doppelt so viele Einwohner warteten in Leningrad auf ein Wunder… auf das Wunder, nicht in deutsche Hand zu fallen. Und auch an Generalmajor F. S. Iwanow erinnerte sich Sinowjew jetzt. Als Schukow ihn fragen ließ, wie die Frontlinie um Leningrad verlaufen würde, hatte Iwanow verzweifelt geantwortet:»Ich weiß nicht; wo die Front verläuft. Ich weiß überhaupt gar nichts!«Sofort wurde er von Schukow seines Kommandos enthoben. Der Marschall kannte kein Erbarmen mehr, er war ein Offizier der härtesten Art, ein Mensch, der Unmögliches möglich machen wollte: Leningrad, eine seit ihrer Gründung im Mai 1703 durch Peter den Großen unbesiegte Stadt, sollte unbesiegt bleiben.