«Gute Fahrt, Herr Sonderführer.«
Sie hörte das Anlassen eines Motors, der Kies knirschte unter den anfahrenden Reifen, irgendwo quietschte es. Gute Fahrt, Väterchen… ich bin hinter dir, ich komme dir nach. Sie legte sich wieder zurück auf Tasche und Decken und drückte das Ohr an die Holzwand zur Fahrerkabine, als der Gefreite Doll hinter das Lenkrad kletterte. Die erste Strecke fuhr er. Er hatte ausschlafen dürfen.
Das wollte jetzt auch Paschke machen und kuschelte sich bequem in seinen Sitz.
«Du, isch han vürhin ne dolle Nummer jehört!«sagte Doll.»Kütt die Lehrerin in de Klass, setzt sich ans Pult… und hätt kein Botz an! Fränzchen in der eschten Reih kann ihr untern Rock spinxe und fängt an, breit zu grinsen. >Fränzchen — < fragt die Lehrerin. >Wat ist denn? Warum laachste su?< Und da Panz antwortet: >Frollein, isch han noch nie 'n Schlüpfer aus Maulwurffell jesinn…< Jut, wat?«
«Abfahren!«schrie Paschke.»Du dämlicher Hund! Laß alle vorbei — wir machen den letzten!«
«Warum dat denn? Bisher…«
«Bisher is nich heute! Ick bin verantwortlich, daß keener verloren jeht. Und det siehste am besten hinten, als letzter. Kapiert?«
Det is der sicherste Platz, dachte Paschke. Da haste keenen hinter dich. Da kann die Kleene ooch mal de Neese ins Freie stecken und keener sieht det. War schon in de Schule so… hinten links, letzte Bank, da konnste imma in Deckung jehen. Intelligent mußte sein, Jefreiter Doll.
Endlich dröhnte der Motor auf, der Aufbau begann zu wackeln, es knackte, als Doll den Gang einlegte, und dann setzte sich der Wagen in Bewegung und drückte unter seinen Rädern den Kies weg. Unter dem Bodenblech klang es wie das Trommeln von Schrotkugeln.
Königsberg, wir kommen, dachte Jana Petrowna. Das Bernsteinzimmer kommt… und wir Wachters.
Irgendwann fielen ihr vom Schwanken des Wagens und dem gleichmäßigen Motorengebrumme die Augen zu, und sie schlief fest mit einem Lächeln um die Lippen.
Als sie aufwachte, war heller Tag, aber es regnete. Auf die Dachplane trommelten die Tropfen. Neben Doll schlief Julius Paschke mit offenem Mund und schnarchte fürchterlich. Am Mittag war Fahrerwechsel, da sollte es Bohnensuppe geben, aus Dosen, die auf einem Spirituskocher heiß gemacht wurden. Dann wollte sich Doll für das bestialische Schnarchen rächen.
Jana Petrowna rutschte an die Kabinenwand und schob sich an ihr empor. Durst hatte sie, aber daran hatte Paschke nicht gedacht. Er hatte ihr seine Feldflasche nicht dagelassen.
Auf den Knien untersuchte Jana die vor ihr stehenden Kisten, fand einen abgesplitterten Span, riß ihn aus dem Holzdeckel und begann, auf ihm herumzukauen. Der Speichel, der sich dabei bildete, verdrängte etwas das Durstgefühl. Es war eine alte, simple Erfahrung: Kauen, kauen, ganz gleich, was es ist… nur kauen… damit hältst du den Durst aus. Eine Zeitlang wenigstens läßt sich der Körper betrügen.
Im Licht, das durch die Planenritzen schimmerte, las sie, was Dr. Runnefeldt auf die Kistenseiten mit dickem Fettstift geschrieben hatte.
Nr. 23 stand direkt vor ihr und hatte den Span geliefert.
Vier Engel, ein Kriegerkopf und eine große Vasenplastik. Und dann, nachträglich, weil mit einem anderen Stift geschrieben, hatte Dr. Runnefeldt noch hinzugefügt:
Eine Madonna aus Bernstein, gefunden im Schlafzimmer der Zarin Elisabeth-Petrowna.
Petrowna. Jana beugte sich vor, küßte die Kiste und den Namen und bekreuzigte sich dann.
Madonna, hilf, daß alles gutgeht.
Und bitte, kümmere dich auch um Väterchen.
Dr. Runnefeldts Auto, ein offener Wagen der Marke Adler, kam gegen den russischen Regen nicht an. Das derbe, feste Segeltuchdach war zwar ein Schutz, aber an den Seiten regnete es durch. Es schloß nicht dicht genug mit dem Rahmen der Karosserie ab. Außerdem stand ein ziemlich heftiger Wind auf der rechten Seite und peitschte den Regen durch die Ritzen. Rechts aber, vorn neben dem Fahrer, saß Rittmeister Dr. Wollters und blickte verbissen in die graue, rauschende Gegend. Er hatte es so gewollt, er hatte es strikt abgelehnt, hinten neben Wachter zu sitzen, den er für völlig unnütz hielt. Dr. Runnefeldt hatte nichts dagegen, die Plätze zu tauschen, und jetzt freute er sich, daß ausgerechnet vorn rechts das Faltdach eine große Lücke zwischen Fensterrahmen und Dachumrandung hatte. Wollters rechte Uniformseite begann durchzunässen. Der Stoff saugte das Wasser wie ein Schwamm auf — eine maßgeschneiderte Uniform aus bestem Aachener Tuch.
«Ein Mistwagen ist das!«sagte Wollters empört und drehte sich zu Dr. Runnefeldt und Wachter um. Auch bei ihnen drang der Regen durch ein paar Ritzen, aber es war noch zu ertragen. In die breiteste Ritze hatte Dr. Runnefeldt sein Taschentuch geklemmt und lächelte Wollters in einer Art von Resignation an.»Wer hat Ihnen denn diese Krücke angedreht?«
«Im Sommer ist ein offener Wagen ideal«, erwiderte Dr. Runnefeldt gelassen.
«Da kann man vor Staub nicht mehr atmen! Und im Winter? Zittern Sie sich warm?«
«Da sitze ich in meinem Büro in Berlin.«
«Im Winter sind Kunstschätze in den eroberten Gebieten für Sie nicht vorhanden?«
«Richtig. Mein lieber Herr Wollters… Kriege fangen erfahrungsgemäß im Sommer oder im Herbst an, wenn das Korn so richtig kräftig steht, die Felder überquellen, die Straßen und Wege pulvertrocken und hart sind. Haben Sie schon mal von einem Krieg gehört, der im Winter anfing? Denken Sie mal die Jahrhunderte zurück. Auch unser Krieg: Polen am 1. September, Frankreich 10. Mai, Rußland am 22. Juni… immer zur besten Zeit. Und bis zum Winter hatten wir Gelegenheit genug, uns um die Sicherstellung der Kunstwerke zu kümmern.«»Aber jetzt kommt der Winter…«
«Das schreckt mich nicht. Wenn wir Moskau in diesem Jahr noch erobern, hat der Abtransport der noch gar nicht abzusehenden Kunstschätze Zeit bis zum Frühjahr. So lange werden wir sowieso brauchen, um alles zu erfassen. Was allein im Kreml lagert — «
Wachter verbiß sich eine Frage, die ihm auf der Zunge lag. Glauben Sie wirklich, hätte er fragen mögen, daß die Deutschen Moskau erobern? Nur drei, vier Wochen noch, höchs-tens, dann ist der Winter, die Schnee- und Eiszeit da. Der» General Winter«, wie er seit Napoleons Untergang vor Moskau heißt. Hat einer von euch schon einen russischen Winter erlebt? Wißt ihr, wenn der Schneesturm über das Land heult, wie armselig ihr dann alle seid, trotz eurer Technik, trotz Panzer und Flugzeugen? Vereisen werden sie alle, am Boden friert ihr fest… da hilft euch kein Befehl von Hitler, nur vorwärts und nicht zurück zu marschieren. Der russische Winter ist stärker als alles… er macht mit euch, was er will, nicht, was ihr wollt. Und gegen General Winter wollt ihr Moskau besetzen? Warten wir es ab, meine Lieben. Kommt nicht jetzt schon die Front vor Moskau zum Stehen?
Rittmeister Dr. Wollters schwieg. Die Belehrungen, die ihm Dr. Runnefeldt so freundlich erteilte, kotzten ihn an. Auch er zerrte aus der Hosentasche ein Taschentuch und stopfte es in die Verdeckritze; aber bei ihm half das wenig, es war in kurzer Zeit durchnäßt. Der Regen tropfte auf seine Uniform, als sei das zusammengedrehte Taschentuch ein Wasserhahn.
«Gibt es denn hier nichts, womit man das Scheißverdeck dicht kriegt?«rief er empört.»Ich bin bis auf die Haut naß.«
«Hier hinten ist es erträglich. «Dr. Runnefeldt dehnte sich behaglich.»Es war Ihr Wunsch, vorn zu sitzen.«
Dr. Wollters biß die Zähne zusammen. Und wenn ich hier vorn schwimme… du bringst mich nicht dazu, meine Meinung zu ändern, dachte er verbissen. Das Mitschleppen dieses Halbrussen ist und bleibt eine Frechheit.
Zur Mittagszeit machten sie Rast an einem Bauernhof. Die Bäuerin, zwei Kinder — eine Tochter und ein Junge von 14 Jahren — und der Großvater waren beim Einmarsch der Deutschen nicht geflohen, sie hatten die graue Lawine über sich hinwegrollen lassen, hatten miterlebt, wie die deutsche Artillerie und die gefürchteten heulenden Stukas, die aus dem Himmel herausfielen, die Stalin-Linie, die vermeintlich uneinnehmbare Verteidigungslinie der Roten Armee, zerbombten und zerschlugen, und hatten damals beschlossen, lieber in den Trümmern ihres Hauses zu sterben, als davonzulaufen. Nicht weit von ihnen lag die Stadt Pskow, das jetzt Pleskau hieß, und hier hatte vor zweihundert Jahren der Leibeigene des Fürsten Michajlow, der Bauer Jermil Konstantinowitsch Gri-maljuk einen Hof zur Betreuung übernommen. Nach Ende der Leibeigenschaft durften die Grimaljuks Haus und Land behalten, lebten bescheiden, aber zufrieden, fuhren oft zum Fischen an den nahen Peipus-See und lobten Gott ob seiner Güte. Jetzt war der Bauer, der Genosse Ilja Wladimirowitsch, als Scharfschütze irgendwo an der Front. Es gab keine Nachricht, keinen Brief, keine Karte — wie auch, seine Heimat war jetzt besetztes Gebiet geworden —, und niemand wußte, ob er noch lebte.