«Verzeihung — «sagte Jana bedrückt, — »aber es ging nicht anders.«
«Ick sag ja nix. De Natur is stärker. Ick bringe den Eimer nachher raus. Iß erst mal. So um Mittanacht sind wir in Königsberg. Dann biste erlöst, Mädchen.«
«Wie kann ich dir danken, Julius?«
«Ick wüßte schon wat. «Paschkes Blick glitt über Janas Körper und blieb an der oberen Wölbung ihrer Schwesterntracht hängen.»Aba det jeht nich. Ick komm dir später im Krankenhaus besuchen. Wo biste denn da?«
«Im Städtischen Krankenhaus«, sagte sie sofort, ohne nachzudenken.»Da muß ich mich melden. Wohin sie mich dann stecken, das weiß ich noch nicht.«
«Ick werd dir finden. «Paschke griff nach dem Henkel des Eimers und verließ mit ihm wieder den Laderaum des Lkws. Draußen kippte er ihn in einen Gully vor der Werkstatt und spülte ihn unter einem Wasserhahn in der Werkhalle aus. Det is ooch dat erstemal, dat ick Mädchenpisse rumtrage, dachte er. Aba wat tut man nich allet for die Liebe. Liebe? Na sajen wir: Sympathie. Zu Hause wartet Hanna. Ooch wennse jetzt fremdjeht… nach'm Krieg is allet wieda normal. Dann is allet wieda vajessen. Ooch det Abenteuer Jana.
Kurz vor der Abfahrt, als Dr. Runnefeldt und Wollters mit Wachter schon im Kübelwagen saßen, kletterte er noch mal unter die Plane zu Jana und holte sein Kochgeschirr ab. Ein Soldat ohne Kochgeschirr ist nur ein halber Soldat. Zwei Dinge gibt's im Krieg, die wichtiger sind als alles andere: das Glück zu überleben, dazu braucht man Glück, und ein sattes Gefühl im Bauch, das kann man steuern. Ein Soldat kann vieles verlieren, nur nicht das am Gürtel scheppernde und gegen die Hinterbacke schlagende Kochgeschirr.
«Jetzt jeht's los!«sagte Paschke leise.»In Königsberg klopp ick jejen de Wand. Dann mußte ne Fliege machen, vastehste? Dann is et jünstig. Mädchen, mach's jut! Und ick suche dir in Königsberg, verlaß dir druff.«
Jana nickte. Plötzlich richtete sie sich an der Rückwand hoch, warf die Arme um Paschke und küßte den völlig Verblüfften auf den Mund. Wie ein Pfahl stand er da und glotzte dumm, als Jana sich wieder von ihm löste. In seinem Kopf, in seinen Schläfen, in seinem Herzen, überall summte es, als sei er ein Bienenkorb.
«Du weißt gar nicht, welch eine große Tat du getan hast, Julius!«sagte sie.»Ich werde dich nie vergessen. Gott sei mit dir… und überlebe den Krieg…«
«Dir… dir ooch allet Jute«, stammelte Paschke, fuhr sich mit beiden Händen über die Augen und tappte zur hochgeklappten Plane zurück. Erst auf dem Pflaster schüttelte er sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ihm, als habe Feuer seine Lippen verbrannt.
Is det 'n heißes Stück, dachte er, leicht benommen. Julius, wennste die mal ins Bett kriegst, mußte dir nachher krank melden. Knochenerweichung. Junge, Junge…
Er ging nach vorn, enterte das Fahrerhaus und ließ sich neben den Gefreiten Doll aus Köln fallen. Zur Begrüßung ließ der einen dumpfen Rülpser los.
«Sau!«sagte Paschke knapp.
«Nach Nudelsupp muß isch immer en Bäuerchen maache. Pardon, Monsieur. «Doll ließ den Motor anspringen, der Kübel mit den Offizieren fuhr schon ab.»Widder als letzte?«
«Ja.«
«Woröm? Jetzt weed de Stroß doch besser. Isch han jenug Dreck in de Freß jekriegt. Immer hinte blieven…«
«Quatsch nich… warte. «Paschke lehnte sich weit zurück. Dieser Kuß, durchrann es ihn. Dieser Druck ihrer Brust jejen meine Brust. Det vajeß ick ooch nich, Mädchen. Und wenn mir späta Hanna küßt, denk ick, du bist's! Übaleb du ooch den Krieg, Jana, und, na ja, Jott sei ooch bei dir…
Als sie als letzte abfuhren und über das Pflaster holperten, wußte Paschke, daß er Jana zum letztenmal gesprochen hatte und nie wiedersehen würde. Er starrte durch das Fenster in die Nacht und kaute auf seinen Zähnen herum und wunderte sich, daß Abschied so schwer auf dem Herzen lasten konnte. Bei Hanna war das anders gewesen. Da hatte er gelacht und gerufen:»Ick komm wieda, wenn mer die Polen zurechtjerückt hab'n. «Aber dann kam nach Polen Frankreich dran, und jetzt Rußland… und was dann noch?
«Woran denkste, Jul?«fragte Doll.
«An 'n Puff in Königsberg.«
«Isch han da en jut Adress. «Doll lachte in sich hinein.»Du, da kenn ich ne Witz. Tünnes und Schäl jehn über de Bottermarkt und…«
«Hält's Maul!«sagte Paschke grob.
«Hinger uns läuft einer mit nem Blechemmer noch und winkt.«»Mit wat?«
«Blecheimer — «
«Jib Jas!«Julius Paschke zog den Kopf zwischen die Schultern.»Varrückte jibt's überall.«
Gauleiter Erich Koch übte sich in Geduld, aber es fiel ihm schwer. Nach dem Anruf von Dr. Runnefeldt aus Kauen hatte er schon in der nächsten Minute Dr. Findling und seinen Vertrauten und Trinkkumpanen Gauamtsleiter Bruno Wellenschlag benachrichtigt und mit Triumph in der Stimme gerufen:»Sofort herkommen! Das Bernsteinzimmer trifft heute Nacht ein!«
Dr. Findling nahm Abschied von seiner Frau, als habe er eine lange Reise vor sich.
«Bestimmt werdet ihr wieder saufen!«sagte sie wenig damenhaft.
«Bestimmt, Martha, bestimmt. Das Bernsteinzimmer bei uns!
Dieses Ereignis muß Koch begießen.«
«Und morgen zerplatzt dir wieder der Kopf, und die Magensäure steht dir bis zum Hals!«Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu:»Bevor du zu Koch gehst, trinkst du diesmal erst ein kleines Glas Salatöl…«
«Was soll ich trinken, Martha?«fragte Dr. Findling entsetzt.»Ein Gläschen Salatöl. Das schmiert die Magenwände aus, wirkt gegen Übersäuerung und neutralisiert den Alkohol.«»Mich übergeben werde ich!«
«Auch das ist nützlich. Wilhelm, Öl ist ein altes Hausrezept. Schon mein Großvater trank ein Glas, bevor er zu Versam m-lungen des Bürgervereins ging. Ich habe Großvater nie betrunken erlebt.«
«Kunststück… der war trainiert. Er konnte saufen wie ein Stier. «Dr. Findling sah mit zusammengepreßten Lippen zu, wie Martha in die Küche ging, Salatöl in ein kleines Schnapsglas goß und es ihm dann hinhielt.»Ich komme mir 47 Jahre jünger vor… da mußte ich jeden Morgen einen Löffel Lebertran nehmen. Seitdem kann ich keinen Fisch mehr riechen. Martha, muß das sein?«
«Ja. Du wirst sehen, es hilft.«
Tapfer trank Dr. Findling das Schnapsglas voll Öl, schluckte krampfhaft und wunderte sich, daß er sich nicht gleich darauf erbrach.
«Furchtbar!«sagte er nur.
«Warten wir's ab, Wilhelm. Bist du zum Frühstück wieder da?«»Auf keinen Fall.«
«Mittag?«
«Wahrscheinlich auch nicht. Ich will das Bernsteinzimmer sofort auspacken lassen und alles registrieren. Der Einbau in Raum 37 wird Wochen in Anspruch nehmen. Alles soll wieder so hergerichtet werden, wie das Zimmer seit der Zarin Elisabeth in Zarskoje Selo gestanden hat. Hoffentlich haben sie beim Ausbau die Wandtafeln und Wandfriese genau beziffert.«»Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters sind doch international bekannte Kunstwissenschaftler.«
«Aber ob sie richtig nummerieren können… wir werden sehen. «Er warf noch einen Blick voll Skepsis auf das Schnapsglas, das Martha in der Hand hielt, gab ihr dann einen Kuß auf die Stirn und verließ seine Wohnung.
Wie erwartet: Bruno Wellenschlag war schon da und hatte mit Koch bereits die ersten zwei Gläser Kognak getrunken. In e-nem Eiskübel stand eine Flasche französischer Champagner. Gauleiter Koch wollte das Bernsteinzimmer gebührend begrüßen.
«Um Mitternacht herum sind sie hier!«begrüßte Koch mit einer weiten Armbewegung Dr. Findling.»Mein Lieber, Sie müssen ja vor Glück platzen.«
«Dieser Tag ist wohl der schönste in meinem Leben, Gauleiter. «Findling trank mit Widerwillen das erste Glas Kognak und hatte das Gefühl, Koch sofort vor die Stiefelspitzen kotzen zu müssen. Aber dann beruhigte sich sein Magen sehr schnell, das brennende Gefühl, das er immer hinterher beim Schnapstrinken empfunden hatte, blieb aus. Großvaters Salatöl schien eine gute Sache zu sein.