Es wurde eine fröhliche Männerrunde, die sich erst gegen fünf Uhr in der Frühe auflöste. Ein wenig angeschlagen, aber nicht so betrunken wie sonst bei Kochs Einladungen, kam Dr. Findling in seine Wohnung zurück. Martha erwachte und setzte sich im Bett auf. Findling ließ sich auf die Bettkante fallen und kippte dann, angezogen wie er war, ins Bett.
«Ein Lob deinem Großvater«, sagte er mit schwerer Zunge und schloß die Augen.»Salatöl ist ein Wundermittel. Die anderen sind total besoffen. Aber ich… ich stehe aufrecht…«
«Ich seh's!«sagte Martha sarkastisch.
Aber das hörte Dr. Findling nicht mehr, er war schon eingeschlafen.
Ein glücklicher Mensch. Ein schwärmerischer Raubgehilfe….
Sofort nach dem dreimaligen Klopfen gegen die Kabinenrückwand war Jana Petrowna nach hinten gelaufen und hatte die bereits gelöste Plane hochgeschoben. Als habe sie das gründlich geübt, ließ sie sich über die Ladeklappe abrollen und sprang auf die Straße. Die Wachstuchtasche preßte sie dabei an ihre Brust, und einen Augenblick war es ihr, als sähen ihr hundert Augen zu, wie sie aus dem Wagen sprang. Aber niemand schien sie beobachtet zu haben, und so lief sie mit weit ausgreifenden Schritten, als müsse sie einen in wenigen Minuten abfahrenden Zug noch erreichen, in den Bahnhof und lehnte sich dort schwer atmend an einen Pfeiler. Sie wartete, daß jemand sie anhielt und kontrollierte, aber keiner beachtete sie, nur ein paar Landser, vom Heimaturlaub zurückkommend, gingen grinsend an ihr vorbei, beladen mit Freßpaketen von Muttern oder Ehefrauen.
Ein paar Minuten blieb Jana an der Säule stehen und ließ ihr heftiges Herzklopfen ausklingen. Geschafft. Bis hierher geschafft. Ich bin in Königsberg! Sie sah hinüber zu den Bahnsteigsperren, wo» Kettenhunde «jeden Reisenden kontrollierten und die Ausweise durchsahen, und sie war froh, nicht mit der Bahn gefahren zu sein. Sie wäre ohne Papiere nie durch die Sperren gekommen. Für die Zivilisten genügte eine Fahrkarte, aber jeder Uniformträger mußte sich ausweisen. War die Schwesterntracht eine Uniform? Sie wußte es nicht. Nur schnell weg von hier, dachte sie. Untertauchen wie in Puschkin. Königsberg war eine große, von Menschen wimmelnde Stadt, und irgendwo in diesem Häusermeer mußte es doch ein Versteck für sie geben.
Sie nahm ihre Wachstuchtasche in die Hand, ging durch die große Bahnhofshalle und hielt einen Bahnbeamten an, der um seine Mütze ein Band mit der Aufschrift Auskunft trug.
«Wo soll's denn hingehen, Schwester?«fragte der Mann. Es war ein alter Beamter, älter als Michael Wachter.»Nach Osten oder Westen?«
«Wie komme ich zum Städtischen Krankenhaus?«
«Mit der Straßenbahn. Linie eins. Aber die fährt erst ab fünf Uhr. Jetzt ist es erst kurz vor eins.«
«Und zu Fuß?«
«Da sind Sie ne ganze Zeit unterwegs. Und dann mit der schweren Tasche. Aber vielleicht nimmt Sie ein Wehrmachtswagen mit. Ich würde mich mal draußen umsehen.«»Danke.«
«Gern geschehen, Schwester.«
Sie blieb stehen, bis der Bahnbeamte in der Menschenmenge verschwunden war, las dann die Hinweisschilder und entschloß sich, dem Pfeil zu folgen, der sie Zu den Wartesälen wies.
Es gab zwei davon, einen der ersten Klasse und einen der zweiten Klasse. Sie blickte durch die breite Glastür in die erste Klasse, sah, daß neben einigen Zivilisten vor allem Offiziere an den Tischen saßen und entschloß sich, in die II. Klasse zu gehen. Hier war die Gefahr, angesprochen zu werden, geringer als bei den Offizieren.
Im Wartesaal II stauten sich die Reisenden und Wartenden. Selbst um diese Nachtzeit waren alle Stühle und Tische besetzt, an den Wänden hockten die Landser auf dem Fußboden oder lagen sogar und schliefen trotz des Lärms, die Tornister als Kopfkissen untergeschoben. Nirgendwo war mehr ein Platz, und obwohl man bemerkte, wie sich die Rote-Kreuz-Schwester umsah und suchte, stand niemand auf und bot ihr seinen Stuhl an. Fast fünf Stunden an der Wand stehen? Mit einem Achselzucken suchte sich Jana Petrowna ein Stück Wand, stellte ihre Tasche vor die Füße und lehnte sich an. Ein Landser, der neben ihr auf dem Boden saß und eine fürchterlich stinkende Selbstgedrehte rauchte, blickte zu ihr hinauf.»Wo wollen Sie denn hin, Schwester?«fragte er. Er war ein älterer Mann, der an der linken Rockseite das silberne Verwundetenabzeichen trug. Ein Ordensbändchen im Knopfloch wies ihn als Träger des EKII aus.
«Mit der Straßenbahn in die Stadt. Aber die erste Bahn fährt erst um fünf Uhr.«
«Und so lange wollen Sie hier herumstehen?«
«Was soll ich sonst tun?«
«Erster Klasse ist auch voll?«
«Da sind mir zuviel Offiziere.«
«Ach so. «Der Landser grinste verständnisvoll.»Warum gehen Sie nicht in die Bahnhofsmission?«
«Bahnhofsmission?«fragte Jana verblüfft.
«Noch nie was davon gehört? Eure Ausbildung wird auch immer schlechter. Schnellkurs… und dann hopp-hopp, in die Lazarette, was? In der Bahnhofsmission sind Sie richtig. Alles Schwestern, vor allem braune Schwestern.. die nehmen Sie bestimmt auf.«
«Danke. «Jana Petrowna hob ihre Tasche wieder hoch, nickte dem Landser zum Abschied zu und verließ den Wartesaal.
In der Halle sah sie sich um, fand den Hinweis Bahnhofsmission und blieb dann vor einer Tür stehen, durch die unaufhörlich Mädchen in einer ihr fremden Schwesterntracht aus und ein gingen, Leichtverwundete herausgeführt oder von Schwestern gebracht wurden. Soll ich? fragte sie sich. Was werden sie mich fragen? Werden sie glauben, was ich ihnen erzähle?
Allen Mut nahm sie zusammen, umkrampfte die Griffe ihrer Wachstuchtasche und betrat nach einem Soldaten mit einem Kopfverband den ersten Raum. Der Geruch von Bohnensuppe schlug ihr entgegen. In einer Ecke stand ein großer emaillierter Kochkessel, aus dem eine Schwester mit einer Kelle die Suppe in die hingehaltenen Kochgeschirre schöpfte. Eine Reihe von Verwundeten hatte sich gebildet, die Witze reißend an dem Kochtopf vorbeizog.
Die Küchenschwester warf einen Blick auf die unschlüssig und hilflos sich umsehende Jana und zeigte mit der Suppenkelle auf eine Pendeltür.
«Dort rein…«
«Danke.«
Sie stieß die Tür auf, kam in einen großen Raum, in dem an langen Tischen einige Verwundete saßen, Kaffee oder Tee tranken und an mit Dauerwurst belegten Broten kauten. Vier Etagenbetten an der Hinterwand waren belegt. Von dort e-klang ein gedämpftes Schnarchen. Eine braune Schwester kam auf Jana zu und musterte sie erstaunt.»Wo kommst du denn her?«fragte sie.
«Von der Front bei Leningrad«, antwortete Jana wahrheitsgemäß.
«Oje! Und nun hast du Heimaturlaub?«
«Nein. Ich muß mich im Städtischen Krankenhaus melden. Kann ich vier Stunden bei euch bleiben? Die erste Straßenbahn fährt erst um fünf Uhr.«
«Natürlich kannst du hier bleiben. Nimmt dich denn keiner mit? Es fahren doch genug Autos vom Bahnhof in die Stadt.«
«Ich habe noch niemanden gefragt. Und — ich fahre lieber mit der Bahn.«
«Wegen der ewigen Fummelei, was?«Die Schwester lachte.»Die einen gewöhnen sich daran, die anderen nicht. Ich hab mich daran gewöhnt. Was willst du machen, wenn so'n schicker junger Leutnant dir über'n Schenkel streichelt?«
«Die Alten sind noch schlimmer.«
«Du sagst's! Auch schon Erfahrungen gesammelt, was?«Die braune Schwester gab Jana die Hand und zeigte auf eine andere Tür an der Seitenwand.»Geh da rein…das ist unser Büro. Da ist's gemütlich, und keiner macht schweinische Witze. Von der Leningrader Front! Wie sieht's da vorne aus?«
«Eine Menge Verwundete.«
«Klar. Wir sehen es ja, wenn die LaZ-Züge hier vorbeikommen. In den Zeitungen und im Rundfunk bringen sie ja nichts darüber. Ist auch gut so. Worauf es ankommt, ist der Endsieg.«