Dr. Phillip, im Range eines Unterarztes, hörte interessiert zu, was der Rothaarige zu berichten hatte.
«Sie stellt sich gleich vor?«fragte er mit freudiger Stimme.»Bildhübsch, sagen Sie? Pechschwarze Haare und ebensolche Augen? Und was Anständiges in der Bluse? Kommt von der Front bei Leningrad? Danke, Robert… dann ist die Kleine ja nahkampferfahren. Bei Frieda ist sie jetzt? Danke für den Tip. Ich werde mich doch noch zum Drachentöter qualifizieren.«
Der Chef der Chirurgie, Stabsarzt Dr. Pankratz, war noch nicht im Haus. Er hatte am vergangenen Tag bis gegen Mitternacht operiert. Ein Lazarettzug war angekommen, und neun Sankas hatten Schwerverwundete zum Krankenhaus gebracht, von denen fast die Hälfte sofort versorgt werden mußte. Sie kamen ohne Zwischenaufenthalt direkt von der Leningrader und Wol-chowi-Front, mit durchgebluteten Verbänden, eiternden Wunden, hohem Fieber… neun Wagen voll zerfetzter Leiber.
Dr. Phillip wartete auf die neue hübsche Schwester, hatte in seinem Arztzimmer einen starken Kaffee gebraut, mit Schokolade überzogene Kekse bereitgestellt und eine Flasche Danzi-ger Goldwasser aus dem Bücherschrank geholt. Die besten Erfahrungen hatte er damit gemacht… Kaffee, Schokoladenkekse und Danziger Goldwasser, das schien eine Mischung zu sein, die bei den Mädchen nicht nur die Herzen öffnete…
Er wartete eine Stunde, machte durch die Station II eine Runde und besuchte drei schwierige Fälle, kniff Schwester Angelika beim Vorübergehen in den Hintern und rief dann ungeduldig in der Verwaltung an. Der Rothaarige — Hausapparat 009 — war baß erstaunt.
«Was? Sie ist noch nicht bei Ihnen?«sagte er.»Das verstehe ich nicht. Vielleicht hat sie sich verlaufen.«»Eine Stunde lang?«
«Fragen Sie doch mal bei Frieda nach, Dr. Phillip.«
«Darauf kann ich gut verzichten. Wecken Sie einen schlafenden Löwen?«
«Nee.«
Dr. Phillip ließ noch eine Stunde verstreichen, fand das alles äußerst merkwürdig und rätselhaft und entdeckte in sich den Mut eines Helden: Er verließ die Chirurgie und machte sich auf den Weg zur Verwaltung und zu Oberschwester Frieda Wilhelmi. Fragen durfte man ja schließlich, wo die neue Mitarbeiterin blieb.
Der Rothaarige im Büro wußte gar nichts, hatte die hübsche Schwester nicht wiedergesehen und fand das Verschwinden auch sehr merkwürdig.
«Vielleicht hat die Kleine doch nicht die Klippe Frieda umschiffen können«, meinte er vorsichtig.»Da genügt nur ein dummer Satz, und schon ist der Ofen aus.«
«Ist das nicht eine Schande für uns alle, daß wir uns das gefallen lassen?!«
«Ändern Sie's mal, Herr Doktor. «Der Rothaarige grinste verlegen.»Machen Sie mal einen Versuch. Damals in Frankreich, wenn die Panzer angriffen, da hab ich im Graben gestanden und keine Angst gehabt, da hab ich gewartet, bis ich im toten Winkel war, und dann raus aus'm Graben, die Hafthohlladung an den Panzerturm geklebt, abgezogen und wieder in Deckung, und dann flog der Turm weg… aber wenn Frieda dort durch die Tür kommt, bekomme ich Herzklopfen.«
Dr. Phillip befahl sich, kein Feigling zu sein, ging hinüber zu den Räumen der Oberschwester, klopfte an die Tür und trat ein. Frieda Wilhelmi thronte hinter ihrem Schreibtisch, las in einem Aktenstück und warf einen durchdringenden Blick auf den Arzt. Am Schreibmaschinentisch saß eine junge, schwarzhaarige Rote-Kreuz-Schwester und schrieb mit zwei Fingern aus der Kladde etwas ab.
Das muß sie sein, dachte Dr. Phillip sofort. Genau, wie Robert sie geschildert hatte. Das Hübscheste, was ich seit langem gesehen habe. Ein Juwel von Mädchen. Was macht es hier bei Frieda an der Schreibmaschine? Sein Jungengesicht unter den blonden Locken glänzte. Siegfried, der strahlende Held, kam furchtlos näher.
«Was ist los?«fragte Frieda Wilhelmi und klappte die Akte zu. Erstaunt blickte Jana Petrowna hoch. Die Stimme hatte sich völlig verändert, der warme, mütterliche Ton hatte sich in eine kalte, durchdringende Trompete verwandelt. Dr. Phillip schien nur diesen Ton gewöhnt zu sein. Er blieb stehen.»Oberschwester, man hat der Chirurgie eine neue Mitarbeiterin angekündigt. Sie hat sich noch nicht gemeldet. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«fragte er.
«Ich habe umdisponiert. Das ist alles.«
«Es wäre gut, wenn das auch die Chirurgie erfahren würde.«»Ist Stabsarzt Dr. Pankratz schon da?«
«Nein.«
«Dann halten Sie den Mund!«Das klang wie ein Kanonenschuß. Dr. Phillip empfand es wie eine schallende Ohrfeige. Die hübsche kleine Schwester blickte von ihrer Schreibmaschine auf. Nur eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Aber es reichte aus, um in Dr. Phillip ein Kribbeln zu erzeugen.»Ich werde dem Chef berichten.«»Oberschwester Frieda — «
«Was wollen Sie noch?!«
Jedes Wort war ein Schlag. Jeder Ton traf Dr. Phillip geradezu schmerzhaft. Er wollte ebenso scharf antworten, aber was hätte das bewirkt? Gegen diese Masse Machtbewußtsein kam niemand an. Selbst Dr. Pankratz hatte es zu Anfang seiner Tätigkeit versucht, mit dem Ergebnis, daß Frieda Wilhelmi die Chirurgie übersah und zugunsten der Inneren und der Gynäkologie Schwestern abzog und jeden Protest kalt von sich wegschob. Das ging so lange, bis Dr. Pankratz zu Frieda kam und sich mit gewundenen Sätzen, die nicht gleich wie eine Entschuldigung klingen sollten, entschuldigte. Frieda nahm die versteckte Kapitulation an, und von diesem Tag an lief der Betrieb in der Chirurgie wieder im normalen Gleis.
«Ist die Frage erlaubt, ob wir in Kürze mit der neuen Mitarbeiterin rechnen können?«fragte Dr. Phillip gepreßt. Es fiel ihm schwer, seine Wut über diese Erniedrigung zu verbergen.»Nein! Rechnen Sie nicht damit. Haben Sie nicht gehört: Ich habe umdisponiert.«
Dr. Phillip begriff, daß er hiermit die Aufforderung erhalten hatte, das Zimmer zu verlassen. Er drehte sich um, warf noch einen Blick auf Jana, deren große schwarze Augen ihn musterten, und verließ dann grußlos das Zimmer. Hinter sich ließ er die Tür laut ins Schloß fallen, als sei sie ihm aus der Hand geglitten.
«Flegel!«sagte Frieda dröhnend. Dr. Phillip mußte es draußen im Flur noch gehört haben.
«Wer war denn das?«fragte Jana Petrowna und lächelte verlegen. Sie begriff nun, was der Sanitäter Bludecker gesagt hatte und daß alle im Haus Angst vor Frieda Wilhelmi hatten.»Das war Dr. Phillip. Der berüchtigte. Der Bursche, der in dem Wahn lebt, der Mann sei die Krone der Schöpfung. «Frieda klappte die Akte wieder auf.»Übe weiter, mein Kind. Kümmere dich nicht um ihn. Und wenn er dir auflauert, sag es mir sofort. Alles, was einen Rock trägt, ist nicht sicher vor ihm.«
Jana Petrowna nickte und schrieb weiter, suchte die Buchstaben und klapperte mühsam den Übungstext ab. Die Gefahr, die von Dr. Phillip ausging, erkannte sie klar. Sie ahnte, daß er ab jetzt ihre Nähe suchen würde, daß er sie beobachtete und ihr nachging, daß er alles versuchen würde, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Von heute an war sie nur sicher im Umkreis von Frieda Wilhelmi, und sie wußte jetzt, daß alles, was noch kommen konnte, abhängig war von dem unerwarteten mütterlichen Wohlwollen und der rätselhaften Zuneigung von Oberschwester Wilhelmi. Es war ihr, als sei sie ein Tier, das in eine warme schützende Höhle gekrochen war, um zu überleben. Sie hatte nun ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl, einen Tisch und eine Stehlampe nebenan im Magazin. Sie hatte zu essen und zu trinken, sie hatte Wärme, wenn es Winter wurde, und sie hatte eine Beschützerin. Blieb alles so, wie es jetzt war, konnte man sicher das Ende des Krieges erwarten.
Und in ein paar Tagen sah sie Väterchen wieder. Im Schloß war er jetzt, bei seinem Bernsteinzimmer, treu dem Schwur, den sein Urahne vor seinem König geleistet hatte: Wo das Bernsteinzimmer ist, wird auch ein Wachter sein.
Gott im Himmel, laß Nikolaj Michajlowitsch in Leningrad überleben. Und einen Sohn zeugen müssen wir auch. Solange es das Bernsteinzimmer gibt, muß es auch einen Wachter geben.»Woran denkst du, Kind?«Friedas Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.