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Er stutzte und blieb stehen. Über den Gang kam ihnen ein älterer Mann entgegen, den Koch irgendwo schon einmal gesehen hatte. Er überlegte schnell, kam aber zu keinem Ergebnis. Ein Mann in einem schäbigen Anzug, der außerdem noch zu weit war. Wie kommt dieser Kerl in den abgesperrten Trakt des Schlosses?

Der Mann zögerte einen Augenblick, dann streckte er den rechten Arm hoch zum deutschen Gruß.»Heil Hitler, Herr Gauleiter!«sagte er sogar. Es klang nicht sehr fröhlich.

«Wer sind Sie?«fragte Koch, ohne den Gruß zu erwidern.»Woher kenne ich Sie? Wir sind uns doch schon mal begegnet…«

«Heute morgen um ein Uhr, Herr Gauleiter. Mein Name ist Michael Wachter. Ich bin mit dem Bernsteinzimmer gekommen.«

«Der Wärter!«rief Wellenschlag.»Der Museumsdiener aus Puschkin, Gauleiter. Der mit seinen 225-Jahren-Vorfahren.«»Richtig!«Koch kam noch einen Schritt näher und schaute Wacher durchdringend an.»Sie sind einer der wenigen, die das Bernsteinzimmer genau kennen?«

«Vielleicht der einzige, Herr Gauleiter. Ich kenne jedes Mosa-iksteinchen. Ich bin in dem Zimmer aufgewachsen, es gehört zu meinem Leben.«

«Kommen Sie mit!«Koch winkte herrisch.»Wir müssen uns darüber unterhalten. Was sind Ihre Pläne?«»Pläne?«fragte Wachter verständnislos.

«Das Zimmer bleibt jetzt hier… was wollen Sie tun? Sie müssen doch eine Arbeit annehmen.«

«Ich habe gedacht, Herr Gauleiter, daß man mich hier brauchen kann. So wie bisher… als Wachter über das Bernsteinzimmer. Als Museumsdiener. Es gibt keinen, der…«

«Ich weiß. Ich weiß! Das Bernsteinzimmer ersetzte Ihnen die Muttermilch.«

«Fast war es so, Herr Gauleiter.«

«Wie lange schätzen Sie die Aufbauten hier im Schloß?«»Einige Monate.«

«Der auch, Bruno!«Koch nickte zum Treppenhaus hin.»Kommen Sie mit, Wachter. Ich habe eine Menge Fragen an Sie. Und das mit Ihrer Übernahme als Wachter überlege ich mir. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann für das Bernsteinzimmer.«

«Danke, Herr Gauleiter. «Wachter schluckte. Ein Kloß im Hals beengte sein Atmen.»Es wäre eine große Ehre für mich, im Schloß arbeiten zu können.«

Sie gingen in ein weitläufiges Zimmer, in dem eine Reihe von Ritterrüstungen an den Wänden standen und in der Mitte einige Glasvitrinen mit historischen Waffen. Kurzschwerter, Stachelkugeln, Beile und Hellebardenköpfe. In der linken hinteren Ecke stand eine moderne Sitzgarnitur, die völlig fremd in dieser Umgebung aus dem Mittelalter ostpreußischer Geschichte wirkte.

Koch setzte sich und winkte Wachter zu, das gleiche zu tun.»Warum haben die Russen Sie nicht gezwungen, die deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben?«begann er das Gespräch, das mehr einem Verhör glich.»Wieso ist ausgerechnet ein Deutscher der Bewacher des Bernsteinzimmers?«»Es ist durch einen Vertrag von 1716 geregelt, Herr Gauleiter.«

Wachter war auf der Hut. Er überlegte jedes Wort genau, bevor er es aussprach. Nur ein kleiner Fehler, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte sein Ende bedeuten — darüber war er sich absolut im klaren.

«1716…«Koch lehnte sich zurück, faltete die Hände über seinem Bauch und musterte Wachter wieder mit durchdringenden Blicken.»Und daran hat sich Stalin gehalten?«

«Jeder, Herr Gauleiter. Alle Zaren und Zarinnen. Kerenskij und Lenin und Stalin auch.«

«Und nun erwarten Sie das auch vom Führer…«

«Von Ihnen, Herr Gauleiter. Dem Führer wird es egal sein, wer das Bernsteinzimmer bewacht. Solange es in Königsberg steht, haben Sie die Verantwortung.«

«Es wird jetzt für alle Zeit in Königsberg stehen!«rief Koch. Der Mann, wie hieß er? Wachter, machte einen guten Eindruck auf ihn. Vor allem konnte er ein Auge sein, das Dr. Findling ständig beobachtete und laufend Berichte abgeben konnte. Nichts, was mit dem Bernsteinzimmer geschah, würde ohne Wachter stattfinden können. Wirklich ein wichtiger Mann.»Wo haben Sie in Puschkin gewohnt, Wachter?«

«Im Katharinen-Palais, nicht weit vom Bernsteinzimmer entfernt.«

«Das werden Sie hier auch. Sie bekommen im Schloß eine Wohnung.«

«Heißt das, daß ich… Herr Gauleiter, ich kann bleiben? Ich darf weiter das Zimmer betreuen? Ich…«

Koch nickte. Es war ihm peinlich, plötzlich Tränen in den Augen des Mannes sehen zu müssen. Er empfand das als unmännlich, auch wenn er in dieser Situation Verständnis dafür aufbrachte.

«Reißen Sie sich am Riemen!«sagte Koch grob und doch mitempfindend.»Ich will, daß Sie mir über alles berichten. Haben Sie Familie?«

«Meine Frau ist schon lange tot.«

«Keine Kinder?«

«Einen Sohn. Er hieß Nikolaus. Bei einem Unfall kam er ums Leben. Motorrad, Herr Gauleiter. Schädelbruch.«

«Ist wie ein Affe gesaust, was?«

«Die jungen Leute. «Wachter hob resignierend die Schultern.»Gut, daß seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Er war für mich eine große Hoffnung. Nun stirbt mit. mir die Familie

Wachter aus.«

«Wie alt sind Sie, Wachter?«

«Fünfundfünfzig, Herr Gauleiter.«

«Zehn Jahre älter als ich! Wachter, das ist doch kein Greisen-alter. Da kann man doch noch einen Sohn zeugen… mit einer jungen, temperamentvollen Frau! Überlegen Sie sich das. Ein Mann kann immer… nur Mut!«Koch lachte. Bei seinem Lieblingsthema angelangt, wurde er sogar kumpelhaft.»Sie wollen doch wohl nicht die 225-jährige Kette zerreißen? In den Lenden der Männer liegt Deutschlands Unsterblichkeit. Sehen Sie sich um, Wachter, in Königsberg wimmelt es von alleinstehenden Frauen mit dem nötigen Hunger.«

«Ich werde es mir überlegen, Herr Gauleiter.«

Koch schlug die Beine übereinander und nahm seine Mütze vom Kopf. Wachter wurde wieder vorsichtig. Es wird also länger dauern, dachte er. Das Verhör geht weiter. So schnell ist ein Koch nicht zu überzeugen.

«Erzählen Sie mir etwas von der Geschichte des Bernsteinzimmers«, sagte er ohne den sonst befehlenden Unterton.

«Das wird Tage dauern, Herr Gauleiter.«

«Na und? Wir haben doch Zeit. Jetzt eine Stunde… und morgen gehts weiter. Was hat zum Beispiel Lenin gesagt, als er zum erstenmal das Zimmer sah?«

«Auf dem Rücken der Werktätigen gebaut!«

«Das sieht ihm ähnlich!«Koch lachte schallend.»Weiter, mein lieber Wachter. Weiter.«

Nach drei Tagen hatte Jana Petrowna gelernt, mit zwei Fingern einigermaßen fließend zu schreiben. Allerdings hatte sie unentwegt geübt, hatte zehn Stunden lang hinter der Schreibmaschine gesessen und sieh die Buchstabeneinteilung der Tastatur gemerkt. Sie hatte sogar versucht, mit geschlossenen Augen zu tippen, aber das ging zu diesem frühen Zeitpunkt völlig daneben. Am Abend des dritten Tages zeichnete sie auf ein längliches Stück Karton die Tastatur der Maschine, genau in der Größe des Originals. Frieda Wilhelmi begutachtete die

Zeichnung, als sie von einem Rundgang durch die Stationen zurückkam. Wie üblich hatte es wieder eine Menge Ärger gegeben. Friedas Trompetenstimme hatte durch alle Flure gedröhnt, ein paar Schwestern ließ sie weinend in den Stationszimmern zurück. Ab und zu Dampf, das schadet nicht, war ihre Ansicht. Dampf treibt die Maschine. Ohne Dampf bleibt alles stehen.

«Was soll denn das, Kind?«fragte sie und legte den Karton zur Seite.»Merkst du dir die Buchstaben so leichter?«

«Nein, aber ich kann immer und überall mit den Fingern darauf üben.«

«Sehr klug!«Frieda umfaßte Jana mit einem fast liebevollen Blick.»Hast du keine Lust, mal an die frische Luft zu gehen?«»Es regnet doch, Oberschwester.«

«Wie war's, wenn du mal in ein Kino gehst? Im Ufa-Palast läuft ein neuer Film mit Zarah Leander. Der Weg ins Freie, heißt der Film. Und im Tivoli wird Jud Süß gespielt… das mußt du dir ansehen, mein Kind.«