Wechajew rümpfte die Nase und beherrschte sich, nicht vor Piwojanow auszuspucken. Mit dem Feind kollaboriert er, zieht mit den Eroberern mit, dolmetscht, was sie befehlen, verrät Vaterland und Brüder, Mütter, Väter und Schwestern, nur, um mit den Deutschen sorglos zu fressen und vielleicht auch noch einiges Beutegut zu kassieren. Welch ein triefäugiges Schweinchen! Verräter überall. Wechajew dachte an die dreckige Spionin aus der Erdhöhle und bekam einen schnelleren Atem.
«Nun sag nur, du Rattengeschwür, was der Faschist will!«knurrte Wechajew und sah dabei den Leutnant so harmlos an, als habe er eine freundliche Begrüßung gesprochen.
Der Leutnant verstand natürlich nichts, aber ein Wort verstand er dem Klang nach sehr gut: Faschist. Das ist international. Er spreizte die Beine und klemmte die Daumen zwischen Gürtel und Leib.
«Wenn er noch einmal Faschist sagt, knall ich ihm die Nase nach hinten«, sagte der junge Leutnant.»Los, übersetz es ihm!«
Stepan Fjodorowitsch tat seine Pflicht und wederholte es auf russisch. Wechajew war kaum beeindruckt, er schluckte nur seine Wut herunter.
«Übersetz — «sagte der Leutnant wieder.»Ihr seid jetzt Gefangene und marschiert die Straße weiter nach Süden. Deutsche Infanterie folgt uns in drei Kilometern. Bei ihr meldet ihr euch. Weglaufen hat keinen Sinn, wir finden euch doch. Und besorgt euch keine Zivilkleider! Ihr werdet nämlich dann wie Partisanen behandelt und sofort erschossen. Als Soldaten könnt ihr überleben.«
Piwojanow übersetzte es fleißig, Wechajew ließ die Arme sinken und leckte sich über die Lippen.
«Bleibst du hier und begleitest uns?«fragte er dann den Dolmetscher.
«Nein. Ich muß mit ihnen weiterfahren.«
«Ein Jammer! Wirklich ein Jammer! Wir hätten dich in der nächsten Stunde so gerne aufgehängt.«
«Was sagt er?«fragte der junge Leutnant mißtrauisch.
«Er wird dem Befehl gehorchen, Herr Offizier. «Piwojanow wünschte sich plötzlich, möglichst schnell wieder auf den sicheren Panzer zu kommen.»Er wird mit seiner Mannschaft zu Ihrer Infanterie marschieren.«»Sehr gut. «Der junge Offizier winkte. Drei seiner Panzerschützen kamen nach vorn, im Arm eine Anzahl Handgranaten. Mit steinernem Gesicht sah Wechajew, wie sie die Motorhauben der Lastwagen hochdrückten, dann den Deckel schnell zuwarfen und zur Seite sprangen. Mit einem dumpfen Gedröhn explodierten die Handgranaten. Es riß die Hauben wieder auf, Motorteile wirbelten durch die Luft, die Wagen vier, sechs und sieben fingen sofort Feuer und standen sekundenschnell in hellen Flammen. Wechajews Leute warfen sich sofort zu Boden und rollten sich von der Straße. Mit ohrenbetäubendem Krachen zerplatzte der Wagen sieben, eine unerträgliche Hitze wehte von den brennenden Wagen zu Wechajew hin.
Der Leutnant winkte von neuem.»Aufsitzen!«schrie er seinen Männern zu. Piwejanow senkte den Kopf und starrte Wechajew von unten an.
«Auch ich bin ein Kriegsgefangener«, sagte er, wie um Entschuldigung bittend.»Machen mit mir, was sie wollen. Soll ich mich erschießen lassen? Eine gute Frau habe ich, neun Kinderchen, drei Söhnchen sind in Leningrad, um es zu verteidigen. Was soll ich tun? Bin ein armer Mensch, Genosse. Du wirst's besser haben, bestimmt wirst du's besser haben. Kommst in ein Lager, hast zu essen, hast Ruhe. Direkt beneiden kann man dich.«
«Zur Hölle fahre!«sagte Wechajew dumpf und verzog verächtlich den Mund.»Bist nicht wert, daß jemand vor dir ausspuckt. Nicht mal anpissen möchte ich dich… ist gute, reine sowjetische Pisse, viel zu schade für dich.«
Er trat von der Straße weg zur Seite, sah finster zu, wie die deutschen Panzersoldaten wieder in ihre stählernen Ungeheuer kletterten, die Luken schlossen und Piwojanow nach hinten zum letzten Gefährt lief, wo er seinen Platz neben der Kanone hatte. Dann donnerten die schweren Motoren auf, die Panzer fuhren an, walzten auf die zerstörten Lastwagen zu, schoben sie von der Straße, stürzten sie um und zermalmten die Aufbauten. Als der letzte Panzer mit dem darauf hockenden Piwojanow an Wechajew vorbeiratterte, starrten sie sich noch einmal haßerfüllt an, und Piwojanow hätte weinen können über so viel Schande. Aber er durfte weiterleben mit der Hoffnung, einmal seine neun Kinder wiederzusehen, vor allem seine drei Söhnchen, die in den Gräben und Bunkern vor Leningrad auf die Deutschen warteten und die Stadt Leningrad nicht hergeben wollten.
Wechajew versammelte seinen Truppe wieder um sich. Die deutschen Panzer waren im Wald verschwunden, nur noch das Rasseln der stählernen Raupenketten lag in der Luft. Die Lastwagen lagen brennend links und rechts der Straße, ein Bild, das Wechajews Herz bluten ließ.
«Genossen — «, sagte er mit ernster, aber dumpfer Stimme.»Gehört habt ihr's. Deutsche Infanterie folgt den Panzern, in einer Stunde können sie hier sein. Zeit genug, um uns zu entscheiden. Wer will, kann weglaufen und sich verstecken. Unser Auftrag ist vorbei. Jeder kann tun, was er will.«
«Ein guter Gedanke ist's, wegzulaufen. «Der Sergeant Jemel-jan Mironowitsch Sotow rieb sich mit beiden Händen unschlüssig die Stirn.»Aber bekommen sie uns dann, wird man uns erschießen. Als Partisanen. Ganz sicher ist das. Lew Semjonowitsch, was wirst du tun?«
Wechajew hatte sich bereits entschieden.»Ich bleibe auf der Straße und gehe den Faschisten entgegen«, antwortete er.»Ein lebender Russe, wenn auch in Gefangenschaft, ist wichtiger als ein toter Held. Einmal wird die Zeit kommen, Rache zu nehmen. Darauf warte ich.«
«Also denn, liebe Freunde, denken wir auch so. «Sergeant Sotow schlug die Fäuste gegeneinander.»So ist es: Leben ist wichtiger als ein verfaulender, durchlöcherter Körper zu sein. Irgendwann vielleicht sehen wir Piwojanow wieder und holen nach, was er verdient hat. Wohnt ja hier in dieser Gegend. Ist leicht zu finden, das verräterische Väterchen mit seinen neun Kinderchen. Wird die Rechnung bezahlen müssen. Gehen wir also.«
Mit Wechajew an der Spitze marschierten sie los, mitten auf der Straße, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen hatten und somit kein kämpfender Feind mehr waren. Knapp Dreiviertelstunden zogen sie durch den Wald, traten hinaus auf ein weites Feld von Spätkartoffeln, über dem schreiend und krächzend ein Schwärm Krähen flatterte. Eine fahle Sonne schien und saugte die Feuchtigkeit vom letzten Regen aus den Furchen.
Als der erste kleine, offene, braungrün gespritzte deutsche Wagen ihnen entgegenkam — es war ein sogenannter Kübelwagen, wie sie im Volkswagenwerk gebaut wurden —, hob Wechajew die Hand, und sie blieben stehen.
Der Wagen hielt, zwei Offiziere sprangen auf die Straße, Pistolen in den Händen, während der Fahrer mit einem Maschinengewehr auf sie zielte.»Hoch!«befahl Wechajew, und wie für ein Ballett einstudiert, schnellten alle Arme in die Luft. Der erste deutsche Offizier, ein Major, lachte laut und ließ seine Pistole sinken.
«Die Helden werden rar«, sagte er zu dem zweiten Offizier, einem Hauptmann.»Sehen Sie sich bloß diese Visagen an! Wenn das so weitergeht, werden wir in ein paar Tagen in der Newa baden können.«
Wie zuvor der junge Panzerleutnant verstand Wechajew nun auch nichts weiter als ein Wort. Aber es genügte ihm.
Die Newa, dachte er. Ihre Seitenarme und Kanäle, die Leningrad durchzogen. Das Venedig des Ostens. Er sah die Brücken und Brückchen in ihrer einmaligen Schönheit vor sich, die Palais der ehemaligen Fürsten und Zarengünstlinge, das Winterpalais, die Admiralität, die Kirchen und Kathedralen, den Newskij-Prospekt, die breite prächtige Straße, die Eremitage, die Kais aus Granit mit ihren breiten Treppen zum Flußufer, verziert mit steinernen Löwen, Sphyngen, riesigen Vasen und Säulen mit Kugeln. Er sah den Marmorpalast, den De-kabristenplatz, die prächtige Rossistraße, in deren säulengeschmückter Häuserzeile im Jahre 1738 die erste Ballettschule Rußlands gegründet worden war, das Kirow-Theater, in dem der schon legendäre Bassist Fjodor Schaljapin gesungen hatte und Tschaikowskij sein Ballett Schwanensee uraufführte: Leningrad und die Newa, die steingewordene Schönheit, der Stolz der Jahrhunderte. Und jetzt spricht da ein deutscher Offizier von der Newa — das kann nur bedeuten, daß er die Stadt an der Newa erobern will. Mütterchen Rußland, wehre dich!» Ihr werdet die Stadt nie betreten!«sagte Wechajew.»Nie, solange noch ein Herz in ihr schlägt.«