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»Halten Sie ein!« rief Dorian Gray mit versagender Stimme, »halten Sie ein, mir wird wirr von Ihren Reden. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort auf Ihre Worte, aber ich kann sie nicht finden. Sprechen Sie nicht! Lassen Sie mich nachdenken. Oder lieber, lassen Sie mich den Versuch machen, nicht nachzudenken.«

Fast zehn Minuten lang stand er da, ohne sich zu regen, mit geöffneten Lippen und einem seltsamen Glanz in den Augen. Er war sich undeutlich bewußt, daß völlig neue Einflüsse in ihm am Werke seien. Jedoch schienen sie ihm in Wahrheit aus ihm selbst gekommen. Die paar Worte, die Basils Freund zu ihm gesprochen hatte – Worte, die ohne Zweifel von ungefähr und mit absichtlicher Paradoxie gesprochen waren –, hatten eine geheime Saite berührt, die zuvor nie berührt worden war, die er aber jetzt zittern und in seltsamer Wildheit rauschen hörte.

Die Musik hatte ihn so ähnlich erregt. Die Musik hatte ihn oft wirr gemacht. Aber die Musik war unbestimmt. Sie erzeugte in einem nicht eine neue Welt, sondern eher ein neues Chaos. Worte! bloße Worte! Wie furchtbar sie waren! Wie deutlich und lebendig und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und was war doch in ihnen für eine feine Magie! Sie schienen imstande, gestaltlosen Dingen plastische Gestalt zu geben und eine Musik in sich zu bergen, die so süß war wie die der Bratsche oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas, das so wirklich war wie Worte?

Ja: es hatte in seinem Jünglingsknabentum Dinge gegeben, die er nicht verstanden hatte. Er verstand sie jetzt. Das Leben wurde für ihn plötzlich feuerfarben. Ihm schien, er sei in leibhaftem Feuer gewandelt. Warum hatte er es nicht gemerkt?

Mit seinem feinen Lächeln beobachtete ihn Lord Henry. Er verstand sich auf den feinen psychologischen Moment, wo es galt, nicht zu reden. Er war stark interessiert. Er war über den plötzlichen Eindruck erstaunt, den seine Worte hervorgebracht hatten; er erinnerte sich an ein Buch, das er mit sechzehn Jahren gelesen, ein Buch, das ihm vieles offenbart hatte, was er zuvor nicht gekannt, und so war er neugierig, ob Dorian Gray jetzt ein ähnliches Erlebnis hätte. Er hatte nur einen Pfeil in die Luft geschossen. Hatte er ins Schwarze getroffen? Wie bezaubernd der Junge war!

Hallward malte mit seinem wundervollen kühnen Pinselstrich, der die wahre Feinheit und vollkommene Zartheit an sich hatte, die, in der Kunst jedenfalls, nur aus der Kraft kommt, drauf los. Er merkte nichts von dem Schweigen.

»Basil, ich habe genug gestanden!« rief Dorian Gray plötzlich. »Ich muß hinausgehn und mich in den Garten setzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.«

»Mein Lieber, das tut mir sehr leid. Wenn ich beim Malen bin, kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser gesessen. Du warst völlig ruhig. Und ich habe den Effekt erhascht, den ich brauchte, die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Harry zu dir gesagt hat, aber sicher hat er bewirkt, daß du den wundervollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat dir Schmeicheleien gesagt. Du mußt kein Wort von allem, was er sagt, glauben.«

»Er hat mir gewiß keine Schmeicheleien gesagt. Vielleicht glaube ich darum nichts von allem, was er gesagt hat.«

»Sie wissen, daß Sie es alles glauben,« sagte Lord Henry und sah ihn mit seinen träumerischen, lockenden Augen an. »Ich komme mit Ihnen in den Garten. Es ist furchtbar heiß im Atelier. Basil, verschaffe uns ein Eisgetränk, mit Erdbeeren darin.«

»Gern, Harry. Drücke nur auf die Klingel, und wenn Parker kommt, werde ich ihm sagen, was ihr haben wollt. Ich bin jetzt mit dem Hintergrund hier beschäftigt und werde also später zu euch kommen. Halte Dorian nicht zu lange auf! Ich bin nie besser zum Malen aufgelegt gewesen als heute. Das wird mein Meisterwerk werden! Wie es dasteht, ist es mein Meisterwerk!«

Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand Dorian Gray, wie er sein Gesicht in den großen kühlen Fliederblütenbüscheln badete und fiebrig ihren Duft schlürfte, als wäre er Wein. Er trat nahe zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie tun ganz recht daran, es so zu machen,« sprach er leise. »Nichts kann die Seele heilen als die Sinne, gerade wie nichts die Sinne heilen kann als die Seele.«

Der Jüngling fuhr zusammen und trat zurück. Er war barhäuptig, und die Zweige hatten seine widerspenstigen Lokken verwirrt und ihre goldenen Strähnen in Unordnung gebracht. Es war ein furchtsamer Ausdruck in seinen Augen, wie ihn Menschen haben, die man plötzlich geweckt hat. Seine fein gebauten Nüstern bebten, und irgendein versteckter Nerv riß leise an seinen Purpurlippen, so daß sie in einem Zittern blieben.

»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens: die Seele mittelst der Sinne, und die Sinne mittelst der Seele zu heilen. Sie sind ein prächtiges Menschenkind! Sie wissen mehr, als Sie denken, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen zu wissen nottut.«

Dorian Gray runzelte die Stirn und wandte den Kopf ab. Er mußte den jungen Mann, der groß und anmutig neben ihm stand, liebhaben. Sein romantisches, olivenfarbenes Gesicht und der müde Ausdruck darin interessierten ihn. Es war etwas in dem müden Ton seiner Stimme, was völlig bezauberte. Auch seine kühlen, weißen, blumenhaften Hände hatten einen besonderen Reiz. Sie bewegten sich wie Musik, wenn er sprach, und schienen eine eigene Sprache zu haben. Aber er fühlte Angst vor ihm und schämte sich, Angst zu haben. Warum war es einem Fremden vorbehalten geblieben, ihn sich selbst zu offenbaren? Basil Hallward kannte er seit Monaten, aber die Freundschaft zwischen ihnen hatte ihn nie geändert. Plötzlich war einer in sein Leben eingetreten, der ihm das Geheimnis des Lebens enthüllt zu haben schien. Und doch, wovor sollte er Angst haben? Er war kein Schulknabe und kein junges Mädchen. Es war töricht, zage zu sein.

»Wir wollen uns in den Schatten setzen,« sagte Lord Henry. »Parker hat uns zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in dieser Sonnenglut stehen bleiben, werden Sie eine häßliche Haut bekommen, und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen nicht stehen.«

»Was kann daran liegen?« rief Dorian Gray lachend, als er sich auf die Bank am Ende des Gartens setzte.

»Es sollte Ihnen alles daran liegen, Herr Gray.« »Wieso?«

»Weil Sie die entzückendste Jugend haben, und es gibt ein Ding, das zu haben sich lohnt: Jugend.«

»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.«

»Nein, Sie empfinden es jetzt nicht. Eines Tages, wenn Sie alt und runzlig und häßlich sein werden, wenn das Denken Ihre Stirn mit seinen Linien verwüstet und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem eklen Feuer gezeichnet hat, werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt, gehen Sie, wohin Sie wollen, entzücken Sie alle Welt. Wird es immer so sein? ... Sie haben ein wunderbar schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form des Genies, steht in Wahrheit höher als das Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. Sie gehört zu den großen Tatsachen der Welt, wie das Sonnenlicht oder der Frühling oder die Spiegelung der silbernen Muschel, die wir Mond nennen, in dunklen Gewässern. Sie kann nicht in Frage gestellt werden. Sie hat ihr göttliches Hoheitsrecht. Sie macht Fürsten aus denen, die sie haben. Sie lächeln? Oh! wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Menschen sagen manchmal, die Schönheit sei nur auf der Oberfläche. Das mag wohl sein. Aber zum mindesten ist sie nicht so oberflächlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder aller Wunder. Nur hohle Menschen urteilen nicht nach dem Schein. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.. . Ja, Herr Gray, die Götter sind Ihnen gnädig gewesen. Aber was die Götter geben, nehmen sie schnell wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wahrhaft, vollkommen, völlig leben können. Wenn Ihre Jugend dahingeht, verläßt Sie auch Ihre Schönheit, und dann werden Sie mit einem Male entdecken, daß es keine Siege mehr für Sie gibt, oder daß Sie sich mit den niedrigen Siegen begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an Ihre Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie etwas Schrecklichem näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und führt Krieg gegen Ihre Lilien und Ihre Rosen. Sie werden gelb und hohlwangig werden und trübe blicken. Sie werden entsetzlich leiden ... Ah! nehmen Sie Ihre Jugend wahr, solange Sie sie haben! Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, leihen Sie den Langweiligen kein Ohr, versuchen Sie nicht, das Los derer, deren Existenz hoffnungslos verfehlt ist, zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht an die Unwissenden, die Gemeinen, die Gewöhnlichen hin! Das sind die krankhaften Ziele, die falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wundervolle Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie nichts für Sie verloren sein! Seien Sie immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen für Ihre Sinne! Fürchten Sie nichts! ... Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein. Bei Ihrer Erscheinung gibt es nichts, was Sie nicht tun könnten. Die Welt gehört einen Sommer lang Ihnen... Im Augenblick, als ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung haben, was Sie in Wahrheit sind, was Sie in Wahrheit sein könnten. Es war so viel in Ihnen, was mich entzündete, daß ich fühlte, ich müsse Ihnen etwas über Sie selber sagen. Mir kam der Gedanke, wie tragisch es wäre, wenn Sie vergebens wären. Denn nur so kurze Zeit dauert Ihre Jugend – so kurze Zeit. Die gemeinen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni ebenso gelb sein wie jetzt. In einem Monat werden purpurne Sterne an der Klematis sein, und Jahr für Jahr wird die grüne Nacht ihrer Blätter ihre purpurnen Sterne in ihrem Dunkel hegen. Aber wir bekommen nie wieder unsre Jugend. Der Puls der Freude, der in uns schlägt, wenn wir zwanzig sind, wird träge. Unsre Glieder ermatten, unsre Sinne verkommen. Wir verfallen und werden häßliche Puppen, und die Erinnerungen an die Leidenschaften verfolgen uns, vor denen wir zurückschreckten, und an die köstlichen Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt gar nichts in der Welt als Jugend.«